Der Blick durch das Mirazur und weiter aufs Meer hinaus.
Geschichten des Jahres 2019

Wie man im neuen "weltbesten Restaurant" isst: Zu Gast im Mirazur

Pasta aus Tintenfisch, sich wundersam öffnende Fisch-Blüten, Taube mit Walderdbeeren und Schafgarbe: Mit solchen Gerichten schafft es Mauro Colagreco auf den Spitzenplatz der Liste „World's 50 Best Restaurants“.

Geschichten des Jahres. Dieser Artikel ist am 27. Juni 2019 erschienen.

Das Sakko hatte er schon abgelegt, als er auf der Festbühne des Hotels Marina Bay Sands in Singapur sehr ausgelassen tanzte. Mauro Colagreco, mit seinem Mirazur die neue Nummer eins auf der umstrittenen, aber für die Gastronomie noch immer maßgeblichen Liste „World's 50 Best Restaurants“, gilt als einer der unkompliziertesten Köche in der Riege der Dreisterner. Den dritten Stern hält er übrigens erst seit kurzem - seit Jänner dieses Jahres. Auch deshalb kann man 2019 wohl als „sein Jahr“ bezeichnen. Colagreco löste Massimo Bottura von der Osteria Francescana in Modena als amtierende Nummer eins ab - dieser konnte nach dem neuen Regelwerk nicht mehr Nummer eins werden, sondern bildet mit anderen ehemaligen Listenersten eine „Best of the Best"-Gruppe. Auch sonst hielt die heurige Verleihung Premieren parat: Mauro Colagreco ist der erste Argentinier, der Nummer eins wurde, während das Mirazur in Menton nahe Nizza das erste französische Restaurant an der Spitze ist.

Das Mirazur ist gewissermaßen ein Grenzlokal: Nur wenige Meter weiter stehen schon die französischen Grenzposten mit ihren skurrilen traditionellen Trachtenhüten - Menton ist der letzte französische Ort vor Italien. Zum Einkaufen fährt Mauro Colagreco - wenn er samstags da ist - nach Ventimiglia in Italien auf den dortigen Bauernmarkt. Bei einem seiner jüngsten Ausflüge nahm er „Die Presse“ in seinem Auto mit. Und stellte seine Stammbauern vor, mit denen er über Artischockenpreise redete, über Honigherkunft und den Reifezeitpunkt von bitterem Grüngemüse. An einem Stand lässt sich Colagreco unter dem Tisch einen kleinen Kübel mit großen Enteneiern reservieren, an einem anderen belädt er sich mit jungem Lauch, nachdem er den wohlbeleibten Bauern fest umarmt hat. Die Plastiksackerln beäugt Mauro Colagreco missmutig, hat aber adhoc auch keine andere Lösung parat. Nicht selten muss er - und das wird als Nummer eins nicht weniger werden - für Selfies posieren: „Ist das nicht dieser Koch?“ Den mehrsprachigen Mauro Colagreco kennt man in Italien auch aus der TV-Sendung „Masterchef“. Er spricht Spanisch, Italienisch, Französisch, Englisch, wechselt ansatzlos von einer Sprache in die andere. Seine Frau Julia ist Brasilianerin, auch sein kleiner Sohn wächst mehrsprachig auf. 

Mauro Colagreco
Mauro ColagrecoLopez de Zubiria

Auf König Alberts Spuren

Mehrere Sprachen spricht auch seine Küche: Derzeit finden sich auffallend viele japanische Elemente in seinem Menü, dazu ist ein Schwerpunkt auf Zitrusfrüchte auszumachen und ein Faible für außergewöhnliche Größenordnungen bei Gemüse. Angesichts der Umgebung des Mirazur (der Ausblick auf das Meer erklärt den Namen unzweifelhaft) kein Wunder: In der Gasse direkt hinter dem Restaurant ist der hauseigene Gemüsegarten zu finden, den Colagrecos Neffe betreut, der aus Argentinien hierher an die französische Riviera übersiedelt ist. Einst gehörte das terrassenartige Areal zum Anwesen des belgischen Königs Albert. In ehemaligen steinernen Becken wachsen heute Zwiebeln, verschiedene Erdbeersorten sonnen sich an den niedrigen Mauern, Erbsen ranken vor der steil aufragenden mächtige Felswand, die das günstige Mikroklima von Menton bestimmt. Colagrecos Sohn Valentin ist süchtig nach Erbsen, er darf hier aus dem Vollen schöpfen - „ich bin so glücklich, dass er das hier so ausleben kann“, sagt der Mirazur-Chef leise.

So manche Rübe darf hier zwei Jahre in der Erde bleiben, während die Erdäpfel auf dem Grundstück auf der anderen Seite der Straße ein extrakurzes unterirdisches Dasein fristen. Eine riesenhafte, mehrere Kilo schwere Rote Rübe (ihr Foto auf dem Handy zeigt Colagreco mehreren Bauern auf dem Markt) wird im Restaurant „wie ein Braten“ geschmort, hauchdünn aufgeschnitten und mit Kaviar sowie selbstgemachtem Obers in Rüschenform serviert. Die winzigen, kaum fingernagelgroßen Erdäpfel indes werden betont bissfest gegart, geschält und mit Tapiokaperlen, Wildforellenkaviar und einer Zitrussauce vermengt. Ein ebenso simpler wie konsistenzenreicher Gang, der formal ausschließlich auf Kügelchen beruht. Seine Zitrusfrüchte bezieht das Mirazur dank einer Kooperation mit der für seine Zitronen bekannten Stadt Menton aus einem eigenen Garten hoch über dem Meer; hier sollen rund hundert Sorten wachsen. Wenn es nach Mauro Colagreco geht, wird es bald auch Olivenöl vom eigenen Anwesen geben und Haselnüsse - er hat in den Bergen Land gekauft, das derzeit noch recht verwildert ist. „Die Gäste, die hierher kommen, haben meistens nur Augen für das Meer“, sagt Colagreco auf der Autofahrt zu seinem Käsebauern im Landesinneren. „Aber wir haben hier genauso Gebirge. Wilde Kräuter, Haselnüsse, Käse.“

Rote Rübe mit Kaviar
Rote Rübe mit KaviarLopez de Zubiria

Zitrusfrüchte spielen auch eine wichtige Rolle in einem Gang namens Lotusblüte. Hauchdünne Rettichscheiben und Fischscheiben ("der Fisch dient hier eigentlich mehr der Konsistenz, um den geht es gar nicht") werden zu einer Blüte angeordnet - ohne Pinzette geht es auch in dieser Küche nicht. Dazu kommen Schale, Saft, Fruchtfleisch von fünf verschiedenen Zitrusfrüchten. Mit einem Dashi-Sud aufgegossen (Japan grüßt), öffnet sich die Blüte im tiefen Teller langsam. Wer hier am Abend zu Gast ist, wird Zeuge, wie sich die eigene Aufmerksamkeit erst mit der Zeit so richtig auf die Küche richten kann - ein solches Panorama ist die denkbar größte Konkurrenz. Die Sonne geht langsam unter, der bunte Häuserreigen von Menton, den man Richtung Westen im Blick hat, und das Meer verschwinden allmählich in der Dunkelheit. Fast ist man erleichtert - ein Menü wie das hiesige im Aussicht-Essen-Multitasking-Modus zu erleben wäre auf Dauer anstrengend.

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