Burma: Die geraubte Schönheit und die Geisterhäuser

Frauen des Muun-Stamms tragen ein Y auf der Stirn. Die Unterschiede in den Mustern der etwa zwölf Gesichtstätowierungen reichen von einfachen Punkten über gerade Linien bis zu spinnennetzartigen Tattoos.
Frauen des Muun-Stamms tragen ein Y auf der Stirn. Die Unterschiede in den Mustern der etwa zwölf Gesichtstätowierungen reichen von einfachen Punkten über gerade Linien bis zu spinnennetzartigen Tattoos.Michael Biach
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Tätowierungen im Gesicht zeugen für die Stammeszugehörigkeit der Frauen im Chin-Staat. In der schwer zugänglichen Bergregion hat sich diese uralte Tradition gehalten, der ein Märchen zugrunde liegt.

In den Bergen des isolierten Chin-Staats im Westen Burmas leben Bergvölker, die jahrhundertelang von der modernen Welt abgeschottet waren. Die Chin-Frauen praktizierten eine tausend Jahre alte Tradition der Gesichtstätowierung. Offiziell wurde das Brauchtum bereits in den 1960er-Jahren von der damaligen Militärregierung verboten. Heutzutage sehen Chin-Mädchen diese Tradition als ein unattraktives Relikt aus längst vergangenen Tagen. Bald wird die alte Tradition für immer verschwunden sein.

Es ist eine Legende, die im Chin-Staat jedes Kind kennt. Einst soll ein burmesischer König in die für die Schönheit seiner Frauen bekannten, jedoch schwer zugänglichen Bergregionen des Chin-Staats vorgedrungen sein. Der Herrscher entführte ein Mädchen, brachte es in seinen Palast und machte es zu seiner Frau. Verzweifelt und unglücklich über ihre Situation entschloss es sich zur Flucht. Aus Angst, der König könnte sie finden und schließlich wieder einfangen, schnitt sich das Mädchen mit einem Messer Linien in sein schönes Gesicht.

Clanmitglieder erkennen

„Es war, als würde es seine eigene Schönheit rauben, um sich vor dem König zu schützen“, erzählt Daw San das alte Märchen. Die Frau ist in ihren Sechzigern und gehört den Muun an, einem der wenigen Chin-Stämme, die die Tradition der Gesichtstätowierung bereits über Jahrhunderte praktizierten. „Jeder hier kennt die Geschichte von dem schönen Mädchen und dem bösen Herrscher, der sie entführte“, erklärt sie mit einem Lächeln. Anthropologen sind jedoch der Ansicht, dass es plausibler erscheint, dass nicht der König, sondern befeindete Stämme weibliche Clanmitglieder verschleppt haben. Diese Tätowierungen würden daher der Stammeszugehörigkeit dienen, um ein entführtes Mädchen leichter identifizieren zu können. Mythos oder Wahrheit? Tatsache ist, dass die Chin vor knapp eintausend Jahren die Tradition der Gesichtstätowierung in ihre Kultur eingeführt haben und das Brauchtum von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde. Zumindest bis vor Kurzem.

Der Chin-Staat ist eine der ärmsten und isoliertesten Regionen des Landes. Viele Gebiete bleiben weitgehend unzugänglich.
Der Chin-Staat ist eine der ärmsten und isoliertesten Regionen des Landes. Viele Gebiete bleiben weitgehend unzugänglich. Michael Biach

Unzugängliches Gebiet

In den Bergen des Chin-Staats leben verschiedene Stämme, die einzig durch die Tattoos der Frauen und Abweichungen in der Sprache differenzieren. Die meisten Stämme leben zwischen den nördlichen Ausläufern des Arkan-Staats und den südöstlichen Hügeln des Chin-Staats. Die burmesische Regierung hat das Brauchtum bereits in den 1960er-Jahren, nachdem das Militär durch einen Staatsstreich an die Macht kam, verbieten lassen. Doch der Chin-Staat wurde seit jeher von der fernen Regierung vernachlässigt, und auch seine Bewohner haben versucht, den Kontakt mit der Außenwelt zu vermeiden. Tatsächlich waren die Chin fast ein halbes Jahrhundert im Kriegszustand mit der Militärregierung. Erst im Juni 2012 kam es zu einem formellen Waffenstillstand, nachdem die Macht in Burma an eine Zivilregierung abgegeben wurde. Für die Bewohner der entlegenen Bergstämme waren diese Entwicklungen jedoch kaum relevant.

Noch immer ist der Chin-Staat eine der ärmsten und am stärksten isolierten Regionen des Landes. Viele Gebiete bleiben weitgehend unzugänglich. Dies ist auch der Grund, warum lokale Traditionen die vergangenen Jahrhunderte unverändert überstehen konnten. Es bedeutet jedoch auch, dass Unterernährung, Kindersterblichkeit und das Risiko für Frauen, im Kindbett zu sterben, immer noch enorm sind. „Die Menschen hoffen nun, dass sie von der Waffenruhe und dem boomenden Tourismus in Burma profitieren werden“, sagt Nay Aung, ein 28-jähriger Guide aus Bagan, der regelmäßig für NGOs und abenteuerlustige Touristen Expeditionen in die Chin-Berge organisiert. Reisen in diese Region, fernab der üblichen Touristenrouten, sind noch immer eine große Herausforderung. Die meisten Gebiete sind nur mit Allrad-Jeeps auf stark beschädigten Bergstraßen erreichbar. Die zwei- bis dreitägigen Fahrten werden immer wieder durch Flussüberquerungen, Murenabgänge oder platte Reifen unterbrochen. Neue Straßen, errichtet meist durch Einsatz von unterbezahlten Kinderarbeitern, befinden sich zwar in Bau, werden jedoch erst in einigen Jahren fertiggestellt sein. „Ein Teil der Straßen wird während der Regenzeit immer wieder beschädigt“, sagt Nay Aung, „das macht es schwer, den Bau zu beenden.“

Junge Frauen verweigern

Über Jahrhunderte akzeptierten die Chin die harten und unwirtlichen Bedingungen der Bergregionen, um im Gegenzug weitab von fremden Herrschern leben zu können. Mittlerweile setzen sich jedoch vor allem die Jungen für eine rasante Öffnung ihrer Region ein, in der Hoffnung auf eine bessere Gesundheitsversorgung und eine Anbindung an die moderne Welt. „Alle Gesichter mit Tattoos sind jene von alten Frauen“, sagt Daw San, „bei den Jungen sucht man dies vergebens.“ Ihr markantes Gesicht zieren tätowierte Linien, die eine Perlenkette darstellen, sowie ein dominantes Y, das einen Opferstamm symbolisiert. Daw Sans Tattoo lässt erkennen, dass die Frau ein Mitglied des Muun-Stamms ist.

Die Unterschiede in den Mustern der etwa zwölf Gesichtstätowierungen reichen von einfachen Punkten (Daai-Stamm) über gerade Linien (Yindu-Stamm) bis zu den spinnennetzartigen Tattoos der Laytoo oder den Vollgesichtstattoos der Ubun, bei der nicht einmal eine einzelne Stelle verschont wird. „Jedes einzelne Tattoo hat eine spirituelle Bedeutung und definiert die Werte des Stamms“, erklärt Daw San. „Durch die Tätowierung erkennen wir uns im Jenseits wieder“, ist sie überzeugt. Der Opferstamm in ihrem Gesicht spiegelt übrigens das Totem des Stamms wieder.

Junge Frauen tragen den Brauch der Gesichtstätowierung nicht mehr weiter.
Junge Frauen tragen den Brauch der Gesichtstätowierung nicht mehr weiter.Michael Biach

Obwohl die Chin vor knapp hundert Jahren von amerikanischen Baptisten massenweise getauft wurden und zum Christentum konvertierten, prägt vor allem der Naturgottglaube das Verhalten der Menschen. Jeder Mann und jede Frau braucht ein Geisterhaus, einen sicheren Platz für das Jenseits. Einmal im Leben, so will es die Tradition, muss ein Mitglied des Stamms eine heilige Zeremonie abhalten, um Schaden durch die Geister im Diesseits zu vermeiden und Frieden für die Zeit im Jenseits zu schaffen.

Während der einwöchigen Feier müssen ein Huhn, ein Schwein, eine Ziege und ein wilder Büffel geopfert werden, das Essen wird mit dem Schamanen des Stamms und der restlichen Dorfgemeinschaft geteilt. Wenn das Ritual erfüllt wird, werden flache Steine aus dem Fluss gesammelt, und es wird ein Geisterhaus errichtet. Nach dem Tod eines Stammesmitglieds werden dessen Überreste verbrannt und die Asche unter den Steinaltar gelegt. „Jemand ist so lang lebendig, bis seine Knochen verschwunden sind“, erklärt Daw San. Nur die erfahrensten Jäger oder die reichsten Dorfbewohner schaffen es, das Ritual ein zweites Mal in ihrem Leben zu wiederholen. „Wenn das passiert“, erzählt Daw San weiter, „darf man den Altar neben seinem eigenen Haus bauen.“

Modernes Dorf

Nur fünf Stunden Fußmarsch entfernt vom Geisterhaus-Friedhof des Muun-Dorfes liegt Mindat. Der Ort hat sich in wenigen Jahren von einem kleinen Chin-Dorf zu einem bedeutenden Marktplatz entwickelt. Männer sitzen in Bars, Lastwagen und Jeeps stehen vor dem Markt, Frauen fahren auf lauten Mopeds und Buben spielen Fußball in der untergehenden Abendsonne. Mindat unterscheidet nicht viel vom restlichen modernen Burma, das weiß auch Daw San. „Für die Mädchen hier sind die Tattoos nichts anderes als ein unattraktives Relikt der Vergangenheit“, erklärt sie mit einem vorsichtigen Lächeln.

Die Enttäuschung darüber kann sie nicht verbergen. „Als ich ein kleines Mädchen war“, erzählt sie, „hat ein Mann ein Mädchen nur dann geheiratet, wenn sie ein Tattoo hatte. Jede Frau war stolz auf ihre Tätowierung.“ Daw San ist sich bewusst, dass es die Hoffnung auf ein besseres Leben ist, für die die Jugend die alten Traditionen aufgibt. „Gesundheit, Arbeit, Wohlstand“, sagt sie. Aber sie fürchtet auch, dass sich die Lebensweise der Chin für immer ändern wird. Für sie steht außer Frage, dass ihr Gesicht eines der letzten Zeugnisse einer aussterbenden Kultur ist. „Bald“, sagt sie mit leichtem Wehklagen, „wird diese alte Tradition für immer verschwunden sein.“

Michael Biach

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2019)

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