Irland: Glaube, Liebe, Haushaltsfarben

Ein echtes Kleinod: Das von einer irischen Nonne ausgemalte Oratory of the Sacred Heart in Dún Laoghaire.
Ein echtes Kleinod: Das von einer irischen Nonne ausgemalte Oratory of the Sacred Heart in Dún Laoghaire.(c) Thomas Schneider / bildbaendiger
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Geheime Orte gibt es auf der grünen Insel nicht mehr, aber viele vergessene. In der Küstenstadt Dún Laoghaire hat eine Nonne mit der kreativen Hingabe eines Michelangelo eine Kapelle ausgemalt, doch fast niemand nimmt Notiz davon.

Wenn sich hinter dieser Tür nicht etwas ähnlich Großartiges verbirgt wie die Grabkammer von Tutanchamun oder die Sixtinische Kapelle, fallen die fünf Besucher, die ungeduldig darauf warten, endlich eingelassen zu werden, in ein tiefes Loch der Enttäuschung, das bodenlos zu nennen eine bodenlose Untertreibung wäre. Seit einer Viertelstunde sitzen sie nun im Vorraum des Oratory of the Sacred Heart, einer kleinen Kapelle im irischen Dún Laoghaire und lassen sich von der ehrenamtlichen Führerin Miss Pilkington auf das vorbereiten, was im Inneren des Kirchleins auf sie warten soll. Diese möchte es offenbar nicht bei einer knappen Einführung belassen, weil sie glaubt, dass der Besuch eines besonderen Orts auch eine besondere Ouvertüre verdient. Mit Verve feuert sie Salven von Schwärmereien auf ihre Gäste ab, bis diese, angepeitscht wie ein Team gälischer Fußballspieler von ihrem Trainer, nur noch losstürmen wollen. Was sie auch tun, als Miss Pilkington endlich das Startsignal gibt.

Ornamente und Tierbilder

Doch beim Erreichen des Eingangs bremst die Gruppe wieder ab. Das Gefühl, etwas Besonderes zu tun, verlangsamt ihren Gang. Mit dem nächsten Schritt hinein in die kleine Kapelle ist es, als sei man in eines dieser Pop-up-Bücher geraten, aus denen beim Aufschlagen einer Seite durch spezielle Falttechniken integrierte Elemente herausspringen und dadurch räumlich erscheinen. Seltsame Tiere hüpfen da die Wände entlang. Tänzelnde, ineinander verknotete Schlangen; Flamingos und Pelikane, deren Hälse und Schnäbel sich zu Ringen zusammenrollen, und Oktopustentakel, die ein kompliziertes Schlaufenlabyrinth formen. Dazu ein vielfarbiges Medley aus verschlungenen Mustern, Spiralen und Kreuzen, das einen schwindelig macht.

Außer tiefem Ein- und langem Ausatmen ist nichts zu hören. Niemand greift zu Smartphone oder Kamera – und das trotz der totalen Instagramtauglichkeit des Ambientes. Ist das jetzt etwa der mystische Moment der Epiphanie, einer jähen, geistigen Manifestation, wie sie einst die drei Weisen aus dem Morgenland erlebten, als sie das Kind in der Krippe erkannten? Der Erweckungsmoment, der staunen, glauben und selbst die Selfie-Sucht vergessen lässt? Nein, es ist der Augenblick, in dem alle Miss Pilkington das lange Vorspiel verzeihen. Das musste vorher erledigt werden, denn umgeben von diesen Bildern lässt sich kaum etwas sagen, ohne völlig pathetisch oder banal zu wirken. Dann lieber sprachlos bleiben.

Lilly Lynch, Mary Concepta

Selbst Menschen, die sonst nur religiöse Zaungäste sind, können sich der spirituellen Kraft, die von diesem kleinen Raum ausgeht, nicht entziehen. Man kann sich die Bilder eine Stunde lang anschauen oder einen Tag. Je länger man davor stehen bleibt, desto unbeschreiblicher wird das Gefühl, das einen beim Betrachten erfasst. Gerade so, als ob man hineingezogen würde in diese mystische Malerei. Eintauchen, sich verlieren in diesem schillernden Überschwang aus Purpurrot, Honiggelb, Lilienweiß und Smaragdgrün. Die Farben glühen und lodern aus sich selbst heraus, als hätte man sie angezündet. Wer braucht da noch Sonne, Mond und Sterne?

Es sind nicht allein die Schönheit der Malerei und ihre Besinnlichkeit, die den Zauber dieses Orts ausmachen. Seine Magie besteht darin, dass er das Werk einer einzigen Frau ist, das der Dominikanernonne Mary Concepta. 1874 als Lilly Lynch geboren, lernte sie das Malen im Atelier ihres Vaters, Thomas Joseph Lynch, der die Renaissance der keltischen Kunst in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt hatte. Nach seinem frühen Tod führte die erst 16-jährige Lilly das Geschäft des Vaters fort, doch ein Brand zerstörte das Studio und damit auch alle Träume, als Künstlerin Karriere zu machen. Mit Anfang 20 trat Lilly in das Kloster der Dominikanerschwestern in Dún Laoghaire ein und unterrichtete als Lehrerin für Kunst, Handwerk und Musik.

Kapelle für Kriegsopfer

Vermutlich hätte die Welt nie von dieser Frau erfahren, wenn nicht so viele irische Soldaten im Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern von Flandern gefallen wären. Zu ihrem Gedenken schenkte Belgien der Gemeinde von Dún Laoghaire eine Herz-Jesu-Statue. Eigens für sie wurde The Oratory of the Sacred Heart im Jahr 1919 erbaut, und dann schlug Lillys große Stunde. Gott, dem Designer aller Dinge, hatte sie ihr Leben geweiht und durfte nun als Nonne selbst zur Designerin werden und tun, wozu sie sich eigentlich berufen fühlte.

Stilistisch hybrid

16 Jahre, von 1920 bis 1936, verbrachte sie jede freie Stunde in der Kapelle, um dem Glauben Farbe zu geben. Weil sie als Ordensschwester das Kloster nicht verlassen durfte, schickte sie ihre Schülerinnen mit genauen Instruktionen ins Geschäft und ließ sich dort aus gewöhnlichen Haushaltsfarben die von ihr gewünschten Nuancen mischen.

Nachts studierte Lilly unter der Bettdecke Kunstbücher, die sie ins Kloster geschmuggelt hatte. Inspiriert vom berühmten „Book of Kells“ und vom Stil der keltischen Renaissancemalerei mischte Lilly christliche, islamische, byzantinische und koptische Formen zu ihrem ganz eigenen, sehr humorvollen Stil. Mit jedem Blick auf die cartoonartigen Figuren, auf die grinsende Schlange und die Mönche, die sich neckisch gegenseitig an den Bärten ziehen, dringt Lillys Lebensfreude auch in die Betrachter ihrer Bilder ein. „An rud a lionas an tsuil lionann sé an croi. Was das Auge füllt, erfüllt das Herz“, sagen die Iren und hätten den Kosmos von Lillys Kunst dennoch erbarmungslos gegen Kommerz eintauschen wollen.

Als Anfang der 1990er-Jahre in Dún Laoghaire ein großes Einkaufszentrum auf dem Gelände des alten Dominikanerklosters errichtet wurde, fielen die meisten Gebäude des Ordens dem Abriss zum Opfer. Engagierte Gemeindemitglieder konnten einzig das kleine Oratory of the Sacred Heart vor den Baggern bewahren. Kaum jemand sonst hatte sich für diesen Speicher der Schönheit interessiert, und das ist bis heute so geblieben. Selbst viele Einwohner von Dún Laoghaire haben von seiner Existenz keine Ahnung.

Für Massen untauglich

Für massenhafte Besichtigung durch Reisegruppen ist das Oratory of the Sacred Heart glücklicherweise zu klein, freut sich Miss Pilkington und bedauert auch nicht, dass geschäftstüchtige Touristiker noch nicht auf die Idee gekommen sind, ein eintrittspflichtiges Besucherzentrum samt Souvenirshop und einem Kinosaal zu errichten, in dem stündlich Filme zur Geschichte der Kapelle vorgeführt würden. Zum Schluss gestattet sich die Führerin dann doch noch ein paar Worte, um zu erklären, warum die Malerei an der Decke unvollendet blieb. Lilly war schwer erkrankt. Mit einer ähnlich großen Anstrengung und kreativen Leidenschaft, mit der Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle wirkte, malte sie bis 1936 weiter, musste die Arbeit aber kurz vor ihrem Tod einstellen.

Lilly – Miss Pilkington nennt die Künstlerin kein einziges Mal bei ihrem Ordensnamen, sondern spricht ausschließlich von Lilly, so als handele es sich um eine gute Freundin von früher. Diese Lilly ist auch uns bei dieser Besichtigung vertraut geworden. Was sie und uns trennt, ist die Zeit. Was uns verbindet, sind ihre Drachenvögel, Schlangen, Mönche und Spiralen. Mit denen hat sie den Besuchern ihrer Kapelle einen dicken Knoten ins Erinnerungstaschentuch gebunden, bevor sie zurückkehren in die Welt, die für eine Weile völlig ausgeschaltet war.

Mehr irische Kirchen, Abteien und Klöster: www.ireland.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2019)

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