Pech für Putin: Die liberale Idee ist stärker als er

Wladimir Putin hält nichts von liberalen Werten.
Wladimir Putin hält nichts von liberalen Werten.REUTERS
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Vor dem G20-Gipfel verkündete Russlands Präsident, dass liberales Gedankengut überholt sei. Das hätte der Kreml-Chef gern. Doch die Beispiele, die er für seine Diagnose nannte, waren daneben.

Bevor er beim G20-Gipfel in Osaka mit US-Präsident Donald Trump ausgiebig Hände schüttelte und bilaterale Probleme weglächelte, geruhte Russlands Staatschef, Wladimir Putin, der „Financial Times“ ein Interview zu gewähren. Und bei dieser Gelegenheit ließ er die Welt wissen, was er von liberalen Werten hält: nichts. Diese Ideen seien überholt, dozierte der Kreml-Chef in seinem öffentlichen Privatissimum mit der britischen Zeitung.

Das ist nicht verwunderlich. Für einen Autokraten wie Putin ist der Liberalismus ein pures und tödliches Gift. Verständnis für die freie Entfaltung ihrer Bürger haben vielleicht nur Herrscher mit Selbstzerstörungstrieb; und dazu zählt Putin nicht.

Er hat jedoch Interesse, den antiliberalen Diskurs zu befeuern, der im Herzen der westlichen Demokratien selbst abläuft. Im Weißen Haus werkt ein US-Präsident, der mit dem Vorschlaghammer durch die liberale, von den Amerikanern nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Weltordnung geht. Da kann es aus Moskauer Sicht nicht schaden, mit der rhetorischen Spitzhacke auf die herumliegenden Trümmer einzuschlagen. Die transaktionalen Deals, die Donald Trump außerhalb der Arenen multilateraler Organisation in seiner America-First-Politik direkt mit einzelnen Staaten abschließen will, sind ganz im Sinne Putins. Die zwei sind Brüder im Geiste, und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, Italiens Vizepremier Matteo Salvini und all die anderen Rechtspopulisten sind ihre kleinen Cousins.


Moralfrei. Der russische Präsident hat eine ausgeprägte Abneigung dagegen, das internationale System mit Werten aufzuladen. Moralfrei soll die schöne neue Welt sein, damit die Herrscher von Moskau bis Riad und Peking ungestört vor sich hin tyrannisieren können. Ihnen waren die Wellen der Demokratisierung, die seit 1945 quer durch alle Kontinente schwappten, ein Gräuel. Sie glauben, die Geschichte anhalten und zurückdrehen zu können. Und tatsächlich verebbt die Demokratie seit einiger Zeit rund um den Globus. Doch das kann sich schnell ändern, wenn Bürger mit steigendem Einkommen auch in Ländern mit autoritären Strukturen Teilhabe fordern. Davor fürchten sich Machthaber vom Schlag eines Putin. Deshalb lassen sie nichts unversucht, um liberales Gedankengut zu diskreditieren.

Im Interview mit der „Financial Times“ schlug Putin mit seiner Breitseite allerdings auf einen Popanz ein. Er fasste sich Merkels Haltung während der Flüchtlingskrise, um die liberale Idee zu geißeln. Bloß: Die Grenzen so lang unkontrolliert offen zu lassen war nicht liberal, sondern verpeilt. Deswegen legte Merkel auch bald eine lautlose 180-Grad-Wende hin. Einschlägige Plattformen werden Putins Kunde trotzdem freudig weiterverbreiten, ebenso wie dessen Auslassungen über die „übertriebene Bereitschaft“ des Westens, Homosexualität zu umarmen.

Russlands Präsident wirbelt Staub auf, um den Kern des Liberalismus zu vernebeln: den Mehrwert, den er Gesellschaften bringt, wenn Bürger wirtschaftlich, politisch und privat möglichst frei ohne staatliche Bevormundungen agieren können. Pech nur für Putin, dass diese Idee stärker ist als er.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2019)

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