Heidemarie Schwermer: Ein Leben ohne Geld

Heidemarie Schwermer Leben ohne
Heidemarie Schwermer Leben ohne(c) Clemens Fabry
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Heidemarie Schwermer kommt seit 14 Jahren ganz ohne Geld und ohne Wohnung aus. Arm fühlt sie sich aber keineswegs.

Alles, was Heidemarie Schwermer besitzt, passt in ihren kleinen Trolley. Darin hat sie ein paar dicke Pullis, Hosen und T-Shirts verstaut, Schuhe, einige Toiletteartikel und ein Buch. Schon bald wird sie ihre Winterkleidung gegen Frühjahrsgarderobe eintauschen. Mehr besitzt die 68-Jährige nicht. Seit 14 Jahren lebt sie ohne Geld und ohne eigene Wohnung. Auf einem Fleck bleibt sie nie länger als eine Woche.

Heidemarie Schwermer ist eine lebenslustige Person. Sie trägt einen extravaganten Ringelpulli mit riesigen Fledermausärmeln, ist dezent geschminkt und sprüht vor Energie, als sie in einem Wiener Café von ihrem Leben erzählt. In einem Alter, in dem andere in Pension gehen, beschloss Schwermer, noch mal ganz von vorne anzufangen – ganz ohne staatliches Sicherheitsnetz. „Ich dachte, ich versuche, ein Jahr ohne Geld und ohne Wohnung auszukommen.“ Was als Experiment begann, ist für Schwermer mittlerweile unberechenbarer, aufregender Alltag geworden.

In ihrem alten Leben war Heidemarie Schwermer in Dortmund als Psychotherapeutin tätig. Schon damals beschäftigte sie sich mit Konsumzwang, der Wegwerfgesellschaft und der Verteilung des Reichtums. Ihre Antwort auf die Sinnsuche: Sie gründete eine bargeldlose Zone, einen Tauschring. In einem kleinen Laden konnten Menschen Dinge abgeben, die sie nicht mehr brauchten, andere holten sich, was sie benötigten. Später brachten die Mitglieder des Tauschrings ihre Fähigkeiten ein: Haareschneiden gegen Autoreparieren oder Babysitten gegen Kuchenbacken. „Gib und Nimm“ nannte sie die Tauschbörse. „Deswegen hab ich schon damals wenig Geld gebraucht.“

Anfang mit der Zimmerpflanze. Die Initialzündung zu einem besitzlosen Leben erlebte Heidemarie Schwermer 1996. Freunde hatten sie damals gebeten, ihre Zimmerpflanzen zu versorgen, während sie auf Urlaub waren. Und wenn sie wolle, könne sie auch gleich in der Wohnung übernachten. Schwermer sah ihre Zeit gekommen. Anfangs behielt sie noch ihre Wohnung. „Ich musste immer wieder zurück in meine eigene Ecke. Später hab ich geübt, um mich auch anderswo gut zu fühlen.“ Schließlich gab sie auch ihre eigenen vier Wände auf. Ihre beiden erwachsenen Kinder waren entsetzt. Ihre Freunde dachten, das würde wieder vorübergehen: „Die sagten, sie wird schon wieder vernünftig werden.“ Heute haben sie sich längst an ihren Lebensstil gewöhnt und bewundern Schwermer für ihre Konsequenz.

Elf Jahre lange hielt sie sich sehr streng an ihr mittelloses Leben. Seit einigen Jahren bezieht sie eine kleine Pension. „Die Rente hätte ich nicht nehmen müssen“, meint Schwermer. Sie tat's aber und verschenkt das Geld seither. Mit der Pension kam auch die Krankenversicherung. „Beim Arzt war ich aber schon 20 Jahre nicht mehr.“

Geld habe einen viel zu hohen Stellenwert in der Gesellschaft, ist Schwermer überzeugt. Dabei geht es ihr aber nicht darum, Geld abzuschaffen. „Das wäre idiotisch.“ Sie wollte „da einfach nicht mehr mitmachen“ – und aufzeigen, dass man auch anders leben kann: „Wir müssen immer nur funktionieren und Leistung erbringen. Und dann sitzen die Menschen da mit ihrem Ego und mit ihrem Neid-Gehabe.“ Beim Streben nach möglichst vielen Nullen auf dem Bankkonto würde man sich keine Zeit nehmen, um herauszufinden, was man wolle. „Jeder hat seinen Platz, wo man sich entfalten kann.“

So wie der junge Mann, der sie immer auf Zugfahrten einlädt. „Weil er behindert ist, darf er im Zug eine Begleitperson mitnehmen. Und das bin manchmal ich“, strahlt Schwermer. „Und er ist so glücklich, weil er seine Lücke gefunden hat. Ist das nicht toll!“

Immer wieder wird ihr vorgeworfen, ihr unkonventioneller Lebensstil funktioniere nur, weil sich andere um Dinge wie Wohnungen oder Essen kümmern. „Du schnorrst, und wir müssen es kaufen“, hört Schwermer öfters. „Ich nehme nicht nur, ich gebe auch“, entgegnet sie. Allerdings gibt sie auch zu, dass eine Welt kaum funktionieren könnte, in der alle Menschen nach ihren Prinzipien leben würden.

Mittlerweile will Heidemarie Schwermer nicht mehr nur an einem Ort, in einem Haus leben. Viele könnten das nicht nachvollziehen. „Reisen macht Spaß, und mit Fremden ist so viel möglich.“ In Wien verbringt sie ein paar Tage bei einer Freundin. Im Gegenzug saugt sie die Wohnung – „meine Gastgeberin hasst das“ – und erledigt einige Dinge im Haushalt. Nach ihrem Wien-Aufenthalt fährt Schwermer weiter nach München.

Ständig unterwegs. „Viele leben allein in großen Häusern und fühlen sich nicht wohl. Oft sind die Frauen allein, die Kinder sind aus dem Haus, der Mann ist verstorben.“ Sie wären nicht so einsam, würden sie etwa im Rahmen einer Wohnungsbörse oder eines Tauschrings ihr Haus hin und wieder Fremden öffnen. Meist ist sie in Deutschland, Österreich, Norditalien und der Schweiz unterwegs. „Als Deutsche fühle ich mich nicht mehr.“

Die Lust auf ständigen Ortswechsel stammt aus ihrer Kindheit, glaubt Schwermer. 1942 wurde sie in Ostpreußen, heute Litauen, geboren. Als Flüchtling kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Seitdem habe sie über eine neue Welt nachgedacht.

Schwermer hat Bücher über ihr Leben ohne Geld geschrieben, hält Vorträge und tritt in Talkshows auf. Die Gage spendet sie, oder sie lässt sich ihre Vorträge in „Naturalien“ bezahlen wie etwa Wertkarten für ihr – geschenktes – Handy. Doch was bringt ihr dieses Leben? Sie selbst sieht sich als „Idealistin“ und „Utopistin“, die für eine weniger materielle Welt kämpft. „Ich wollte nicht nur rumfaseln, sondern einfach damit anfangen.“ Und mittlerweile kann sich Heidemarie Schwermer nicht mehr vorstellen, mit diesem Leben wieder aufzuhören.

Heidemarie Schwermer arbeitete in Dortmund als Lehrerin und Psychotherapeutin, bevor sie im Mai 1996 beschloss, ohne Geld zu leben.

Konsum-Kritik war ihr auch davor schon lange ein Anliegen gewesen. Unter anderem hatte sie die Tauschbörse „Gib und Nimm“ gegründet.

In Buchform hat Schwermer ihre Erfahrungen ebenfalls festgehalten. Das bekannteste ist „Das Sterntalerexperiment. Mein Leben ohne Geld“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2010)

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