Festspiele Reichenau: Das Private ist höchst politisch

Nach einem kleinen Abenteuer mit der intellektuellen Vera Wormser (Stefanie Dvorak) kehrt Sektionschef Leonidas (Joseph Lorenz) zurück in sein sicheres Heim.
Nach einem kleinen Abenteuer mit der intellektuellen Vera Wormser (Stefanie Dvorak) kehrt Sektionschef Leonidas (Joseph Lorenz) zurück in sein sicheres Heim.(c) Dimo Dimov / Festspiele Reichenau
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Filmregisseur Julian Pölsler inszenierte zur Eröffnung Franz Werfels Novelle „Eine blassblaue Frauenschrift“: Nobel und achtbar – mit Joseph Lorenz in Bestform.

„Die Männer sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch“, heißt es in einem Schlager von 1913. Fürwahr, Sektionschef Leonidas betrügt und belügt seine Geliebte und seine Frau, im Amt ist er Opportunist. Das Private ist höchst politisch in Nicolaus Haggs Fassung von Franz Werfels Novelle „Eine blassblaue Frauenschrift“, die 1940 in Südfrankreich entstand. Mit Ehefrau Alma floh der Dichter vor den Nationalsozialisten zu Fuß über die Pyrenäen und gelangte schließlich in die USA, wo er, schwer herzkrank, 1945 mit 54 Jahren starb. In der Figur des Leonidas verewigte er die Erste Republik, ihr Kippen in die Diktatur, verschärft nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland.

Werfel zeichnet aber auch sich selbst, den Mann, die Frauen im sozialen Umbruch der Moderne. Leonidas steigt durch Heirat aus Armut zu Reichtum auf, was sonst eher Mädchen gelingt. Seine Gattin Amelie ist einerseits eine Femme Fragile des 19. Jahrhunderts, Teil der obersten Gesellschaftsschicht, stammend aus einem global operierenden Handelshaus, das seinen Schwerpunkt vom versunkenen Großreich Österreich-Ungarn ins aufstrebende Großreich England verlegt hat. Andererseits hat Amelie Leonidas selbst gewählt und erobert, ein Akt der Emanzipation angesichts ihrer Herkunft und ihrer Klasse: Lieber Sex als Geld.

Vera Wormser wiederum ist die nach Autonomie strebende Frau von heute, deren Sehnsüchte durch Leonidas' Flucht, noch weit mehr aber durch die Vertreibung der Juden aus Deutschland fürs Erste zunichte gemacht werden. In Amelie mag man Klimts dämonische oder melancholische Damen sehen, in Vera Wormser einen ähnlichen Typ wie die Philosophin Hannah Arendt.

1984 verfilmte Axel Corti Werfels Buch, kongenial besetzt mit Friedrich von Thun als Leonidas, Otto Schenk als Minister oder Friederike Kammer als Vera. Julian Pölsler, der die Reichenauer Version inszenierte, war damals Cortis Assistent. Die Aufführung im vergilbten Prunk und ruppigen Funktionalismus ausstrahlenden Bühnenbild von Peter Loidolt erscheint filmisch gelungen, dramaturgisch aber unbeholfen. In Cortis Film wirkte Corti selbst mit seiner einmaligen Stimme als Erzähler, das ist durch Monologe und Beiseitesprechen nicht ersetzbar.

Großartig: Dvorak, Fanny Stavjanik

Nach einem etwas papierenen Beginn entwickelt sich das Geschehen allerdings in großer Dichte. Joseph Lorenz ist ein eleganter Sektionschef, das abgründig Perfide dieses Beamten, der mit seiner privaten Sache auch die politische verrät, fehlt Lorenz zwar, aber als Charmeur mit schlechtem Gewissen ist er unschlagbar. Eine große Verwandlung in wenigen Strichen hat Stefanie Dvorak als Vera zu vollziehen, von der skeptisch Liebenden zur Enttäuschten, das bewältigt sie fabulös. Fast hat Dvorak nun die energischen Ladies besser im Griff als die Mädchen, ein gelungener Fachwechsel. Aber auch eine bessere Besetzung für die Amelie als Fanny Stavjanik lässt sich kaum denken: Eskapismus, Delikatesse und diese Glut in der Urangst der Ehefrau, zauberhaft. Alexander Rossi spielt Amelies Bruder Paul, den Hagg gewissermaßen als Zeitzeugen eingefügt hat: Ein Mann mit Kenntnis, Instinkt und Charisma, weit weg von der alten Welt.

Thomas Kamper sprang für den verstorbenen Peter Matić ein, dieser hat in Reichenau oft und wunderbar gespielt, in Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“, Gorkis „Kinder der Sonne“, den Baron in Horváths „Zur schönen Aussicht“ oder den Jacobowsky. Das Intendantenpaar Loidolt würdigte ihn vor Beginn der Premiere am Montag. Kampers Minister ist zu jenem von Matić gewiss sehr konträr, aber glaubwürdig in seiner heuchlerischen Bodenständigkeit.

Peter Moucka zeichnet mit verschlagener Verve den Hofrat als Nazi, vom Höfling zum Büttel, eine etwas krasse Verzeichnung. Haggs Version der Novelle prägt das Wissen, um nicht zu sagen die Obergescheitheit der Nachgeborenen. Werfel agierte da, trotz Grimm, mit deutlich mehr Tiefenschärfe. Alles in allem dennoch: eine feine Eröffnung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2019)

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