Tatort Judenstein

Original im Depot: Duplikat einer Anderl-Figurengruppe im Augustinermuseum Rattenberg.
Original im Depot: Duplikat einer Anderl-Figurengruppe im Augustinermuseum Rattenberg.(c) SW
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Im 17. Jahrhundert verwandelte ein katholischer Laienapostel eine Wanderlegende in eine antisemitische Märtyrergeschichte. Mittlerweile „judenfrei“ geworden, wird der Kult um den Anderl von Rinn weiter hochgehalten. Besuch in Tirol.

Ein Stein liegt im Gelände. Ein blanker Felsblock. Der Sillgletscher hat den Gneisbrocken plattgeschliffen und ihn während der Würmeiszeit vor über 100.000 Jahren auf dem Innsbrucker Mittelgebirge in der Nähe des heutigen Dorfes Rinn abgelagert. Esoteriker sehen in ihm einen spirituellen Kraftplatz, Romantiker einen heimlichen Treffpunkt für Liebespaare und Drehbuchschreiber einen grausamen Tatort. Eine heimatkritische Tirol-Tatort-Folge von Felix Mitterer mit Harald Krassnitzer und Adele Neuhauser unter dem Titel „Der Judenstein“ steht leider noch aus. „Leider“ meine ich ehrlich.

Seit 300 Jahren gibt es eine Tatortversion von Hippolyt Guarinoni. Der barocke Laienapostel stammte aus Trient und oszillierte als schillernde Figur zwischen Norditalien und Nordtirol. Er starb 1654 in Hall. Unter Auslassung von Anführungszeichen war er Arzt, Universalgelehrter, Architekt, Botaniker, Schriftsteller und Reiseblogger. Die, diesmal mit Anführungszeichen, „Schande“ seiner unehelichen Geburt wurde rund ein halbes Jahrhundert später von Papst Paul V. per Dekret getilgt. Dafür musste Guarinoni sich ins Zeug legen. Sein Umtrieb war von blühender Fantasie und fanatischem Katholizismus geprägt. Wenn es galt, sich in seiner Wahlheimat Tirol beliebt und anerkannt zu machen, scheute er weder Erfindung noch Verleumdung. Im bergbäurischen Misstrauen gegenüber Fremden, von der Kirche im berüchtigten Tiroler Antisemitismus kanalisiert, fand Guarinoni den Nährboden für die Implementierung einer nachhaltigen Ritualmordlegende. Oberrinn mit seinem markanten Felsen, ein Ortsteil des Dorfes Rinn, bot sich als Schauplatz an: Ein Weiler nahe der Römerstraße zum Brenner, reichlich Durchzugsverkehr, eine ausbaufähige gastronomische Infrastruktur, eine fromme, bodenständige Bevölkerung, die sich von dekadenten Städten wie Hall und Innsbruck trotz geografischer Nähe abhob, und, wie neuere Untersuchungen ergaben, ein lokaler Ableger der Wanderlegende eines von Juden ermordeten Christenkindes, die sich nach dem Prototyp „Simon von Trient“ von Norditalien über Tirol bis tief in den süd- und mitteldeutschen Raum verbreitete.

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