Auf ein Eis am Roten Platz

Im Auftrag von Iwan dem Schrecklichen: die Basilius-Kathedrale.
Im Auftrag von Iwan dem Schrecklichen: die Basilius-Kathedrale.Getty Images
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Die Metropole an der Moskva ist mächtig herausgeputzt: neue Straßen, neue Parks, eine Flusspromenade, ein hypermodernes Freizeitzentrum. Nötig hat es die russische Hauptstadt nicht.

Ein Moskowiter muss nicht unbedingt in Moskau geboren sein, aber er muss die Stadt lieben, spüren, entdecken und begreifen“, sagt Marina Savitskaya und schleckt an ihrem Plombir-Eis, einem süßen Relikt aus der Sowjetzeit. Die 53-jährige Russin, die in Moskau und Leipzig Germanistik studiert hat und nun Touristen durch die Hauptstadt an der Moskva führt, steht vor einem goldfarbenen Holzhäuschen im noblen Einkaufszentrum GUM am Roten Platz. „Morozhenoe“, Eiscreme, prangt in roten Lettern darauf.

Geduldig warten hübsch gestylte Frauen mit langen Haaren, dicker Sonnenbrille und Gucci-Tasche in einer Schlange neben Mädchen im Rüschenkleid, einem jungen Paar in Designerklamotten und Männern im Anzug auf ein cremiges Milcheis im Waffelbecher. Savitskaya gibt der Eisverkäuferin, die wie in alten Zeiten eine weiße Haube trägt, einen 50-Rubel-Schein, umgerechnet 70 Cent, und lacht. „Als ich Kind war, wurde das Eis noch aus dem Bauchladen verkauft, die Kugel für 20 Kopeken.“

Das war vor mehr als 40 Jahren. Da kam die zehnjährige Marina aus Sibirien regelmäßig mit ihren Eltern zum Verwandtenbesuch nach Moskau. Schon damals war das traditionelle sowjetische Speiseeis ein Verkaufsschlager, seine Herstellung dem strengsten Standard weltweit unterworfen. Das GUM, das im russischen Kaiserreich im Jahr 1893 als vornehmes Handelshaus eröffnete, war zu jener Zeit ein staatliches Kaufhaus. Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion zu Beginn der 1990er-Jahre wurden die Läden privatisiert – das kommunistische Warenhaus verwandelte sich in ein schickes Einkaufszentrum.

Heute laden internationale Luxusmodegeschäfte die Hauptstädter in die lichtdurchfluteten Passagen aus Granit und Marmor – tonnenförmige Glasdächer, zusammengesetzt aus Tausenden Scheiben, lassen die Sonnenstrahlen in jeden Winkel. Auch wenn sich der Normalbürger einen Einkauf im GUM nicht leisten kann, das Wahrzeichen der russischen Metropole bleibt ein beliebter Treff, um bei einem Bummel auf den Galerien, beim Stahlbetonbrücken und am Springbrunnen aus rotem Quarzit ein Sowjet-Eis zu genießen und dabei in Kindheitserinnerungen zu schwelgen.

Neun Kirchen, neun Kuppeln

„Das Tolle an Moskau ist, dass man sich darin verlieren kann“, schwärmt Savitskaya nach nur wenigen Schritten vor der rot-weißen Basilius-Kathedrale. Neun Zwiebeltürme, rot-grün dekoriert oder himmelblau-weiß gestreift und aufgeblasen wie ein Heißluftballon, ragen über hundert Meter in den Himmel – ein Unesco-Weltkulturerbe. Auf deren Spitzen jeweils ein Kreuz aus Gold, die Sockel verziert ein goldener Saum. Touristenscharen posieren vor der märchenhaften Fassade für Selfies: einmal das GUM, einmal das Lenin-Mausoleum oder die roten Kreml-Mauern im Hintergrund. Eigentlich besteht die Basilius-Kathedrale aus neun einzelnen Kirchen, jede einem anderen Heiligen gewidmet.

Zar Iwan der Schreckliche wollte sich im 16. Jahrhundert für seinen Sieg über die Tataren mit dem Bau als schönste Kirche der Welt belohnen. Das ist ihm gelungen. Damit das so blieb, ließ er anschließend seinem Baumeister die Augen blenden, so hört man es oftmals auf dem Roten Platz. Guide Savitskaya weiß es besser, schließlich schuf der Zarenbedienstete auch nach der Basiliuskathedrale architektonische Schönheiten.

Überhaupt geben sich die Moskowiter gern stolz und auch ein wenig snobistisch, erzählt sie auf dem Weg zum Kathedralenplatz im Kreml. Fünf Kirchen, eine schöner als die andere, gruppieren sich um die weite Piazza in Moskaus ältestem Viertel und heutigem Präsidentensitz. Wer vor dem mit Gold bemalten Messingtor der russisch-orthodoxen Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale steht und in ihrem Inneren die 69Symbolfiguren auf einer riesigen Ikonenwand sieht, kann sich gut vorstellen, wie es gewesen sein muss, als die Zaren hier Krönungen und Hochzeiten gefeiert haben. Allein schon die Kuppeldecke, die über und über mit Fresken aus dem 17. Jahrhundert verziert ist, und Kronleuchter aus mehr als 300 Kilogramm purem Silber – pro Stück. Prunk und Protz waren in Moskau seit jeher an der Tagesordnung und sind es auf charmante Weise noch immer.

Viel Wohneigentum

In wohl kaum einer anderen Stadt auf der Welt leben mehr als drei Viertel der Einwohner in Eigentum anstatt zur Miete. Weit gefehlt, wer glaubt, die Moskowiter hätten dafür fleißig gespart oder besonders hart gearbeitet. Zwar verdient man hier durchaus mehr als in vielen anderen Regionen Russlands, letztendlich aber verhalf der Staat Anfang der 1990er-Jahre zahlreichen Hauptstädtern zu potenziellem Reichtum, indem er damaligen Mietern anbot, die Staatswohnung, in der sie lebten, kostenlos zu erwerben.

Rund 90 Prozent der Moskowiter hatten die Möglichkeit, denn fast der gesamte Bestand gehörte dem Staat. Man wollte einen privaten Wohnungsmarkt schaffen und die Staatskosten senken, da die Hauptstädter bislang so gut wie kostenfrei wohnten und nur einen minimalen Prozentsatz des Durchschnittsgehalts für Miete aufbrachten. Für den einen oder anderen, der eine Wohnung in bester Lage übernehmen konnte, dürfte es sich gelohnt haben. Bei heutigen Kaufpreisen von rund 29.000 Euro pro Quadratmeter ist mancher dabei zum Millionär geworden und hat sich von dem Erlös vielleicht in Moskaus City einquartiert.

Im neuen Businesszentrum, in dem auch russische Filmstars Apartments besitzen, schießen futuristische Wolkenkratzer wie Pilze aus dem Boden. Davor fließt die Moskva, thront der gewaltige Bau des ehemaligen Hotels Ukraina, eine der im stalinistischen Zuckerbäckerstil erbauten Sieben Schwestern – eine beeindruckende Skyline. „Hoffentlich wächst Moskau nicht weiter“, sagt Marina Savitskaya und streicht sich die Haare hinter die Ohren. „So ist sie die Stadt der Zukunft und der Welt: schön, alt, modern, lebendig, nicht schlechter als New York, wohin viele streben“, sie grinst und steigt in die Metro mit ihren theaterkulissenähnlichen Stationen aus dem frühen 20. Jahrhundert: Die Wände tragen Marmorplatten und Majolika-Ornamente, Reliefs an den Gewölbedecken und Säulen im Art-déco-Stil. Man genießt den Anblick dieser „Paläste für das Volk“ und denkt an das nächste Plombir-Eis.

MOSKAUS MITTE

Übernachten: Hotel Golden Apple: ruhiges Boutique in Fußweite zur Twerskaja und zum Puschkin-Platz, moderne AC-Zimmer, Jacuzzi, gutes Frühstücksbuffet. www.goldenapple.ru

StandArt Hotel: im historischen Zentrum am Boulevardring, jedes Zimmer anders, retrofuturistischer Style, Restaurant, Spa, Dachterrasse. www.standarthotel.com

Infos:www.studiosus.com, Botschaft der Russischen Föderation (http://aust- ria.mid.ru), Russia Travel.

Compliance: Die Reise wurde von Studiosus unterstützt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2019)

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