Ach Putin, ach Kritiker

Die liberale Idee sei obsolet, meinte Putin. Du bist obsolet, sagen seine Kritiker. Ich sage: Die liberale Idee ist jedenfalls nicht mehr sehr liberal.

Ich bin schon ein bisschen spät dran, aber mir geht die Äußerung Wladimir Putins nicht aus dem Sinn, dass die liberale Idee obsolet geworden sei. Und mich überzeugen die Antworten nicht. Es wird schon stimmen, dass die Menschen Demokratie und Rechtsstaat im Allgemeinen höher schätzen, als Putin meint. Und dass insofern die liberale Idee stärker ist als Putin. Aber wie stark ist sie wirklich noch?

Vor rund 70 Jahren bestand die liberale Idee in der Einsicht, dass der potenziell schlimmste Feind des einzelnen Menschen ein aus den Fugen geratener Staat ist. Darum entstanden die Menschenrechtskataloge als Bollwerke gegen staatliche Eingriffe. Längst hat sich aber die Grundrechtsanschauung gewandelt: Nicht mehr das Recht, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, steht im Mittelpunkt, sondern die Ansprüche an die Gesellschaft, die den Staat zum Tätigwerden verpflichten.

So war es einmal liberaler Grundkonsens, dass die Schule der Familie nachgeordnet ist. Sie sollte neben reinem Wissen auch Tugenden und Haltungen einüben, aber sie sollte niemandem eine Überzeugung oder Weltanschauung aufzwingen oder die des Elternhauses korrigieren. In manchen Ländern ist das schon Teil des Lehrplans. Und bei uns erhoffen sich das viele vom Ethikunterricht oder zumindest von schulfremden Sexualpädagogen.

Massiv eingeschränkt wurde im Lauf der Jahrzehnte auch die Autonomie des Unternehmers in Bezug darauf, mit wem er Geschäfte machen und mit wem er zusammenarbeiten möchte. Eine seit Jahren drohende EU-Gleichbehandlungsrichtlinie möchte den Staat sogar zum Wächter darüber machen, dass selbst bei privaten Rechtsgeschäften niemand eine Gruppe benachteiligt oder bevorzugt.

Deutlich sichtbar ist der Rückbau des Liberalen auch beim Grundrecht der Meinungsfreiheit. Als es an die Formulierung dieses Grundrechts 1945 ging, wollte Moskau eine Einschränkung: Feinde der Freiheit sollten an der freien Meinungsäußerung gehindert werden dürfen. Die Westmächte haben zäh widerstanden. Ihr liberales Verständnis war, dass nicht Vorurteile oder die Äußerung missliebiger Ideen den Absturz in die Diktatur vorbereiten, sondern Sprechverbote. Auch diese fundamentale Option für die Freiheit wurde schrittweise aufgeweicht, durch Hate-Speech-Gesetze oder universitäre Sprechver- oder -gebote.

Ob man die genannten Entwicklungen nun gut oder schlecht findet: Sie sind jedenfalls eine Abkehr von der liberalen Idee, die die Autonomie des Einzelnen auch dann hochhält, wenn sie stört oder kränkt. Obsolet ist diese Idee nicht. Einsturzgefährdet schon.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2019)

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