Europa ist kein Kuchenbuffet – und das ist auch gut so

Das Hickhack um Polen offenbart, welches Bild sich Populisten von Europa machen.
Das Hickhack um Polen offenbart, welches Bild sich Populisten von Europa machen. REUTERS
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Dem Wunsch europäischer Nationalpopulisten nach einer Balkanisierung des gemeinsamen Binnenmarkts steht das Höchstgericht der EU im Weg.

Aus der Perspektive eines Hammers sieht jedes Problem wie ein Nagel aus. So lässt sich die Kritik am Europäischen Gerichtshof zusammenfassen, die in nationalpopulistischen Kreisen geäußert wird. Für jene, die den Patriotismus ihrer Mitbürger als Waffe gegen den vermeintlich dekadenten Brüsseler Kuhhändler-Klüngel missbrauchen, bietet das Höchstgericht der EU in der Tat ein lohnendes Ziel: Fürstlich bezahlte Robenträger, die im Großherzogtum Luxemburg residieren und dort im Namen des allmächtigen europäischen Binnenmarkts alle nationalen Vorschriften und Gesetze beiseite wischen, die ihnen nicht in den kosmopolitischen Kram passen. Und an denen die Wut des um seine wohl erworbenen Rechte betrogenen kleinen Mannes von der Straße so mühelos abperlt wie kühler Champagner an einem gut gestärkten Tischtuch . . .

Wie Sie spätestens an dieser Stelle gemerkt haben werden, handelt es sich bei der obigen Beschreibung um ein ins Groteske überzogenes Klischeebild. Wenn europäische Populisten die Luxemburger Höchstrichter kritisieren, dann tun sie das üblicherweise sotto voce. Die schrillen Töne hebt man sich für das Bierzelt auf. Doch die inhaltliche Essenz dieser Kritik ist stets die gleiche: Der EuGH greife mit seinen Urteilen in die Domäne der Mitgliedstaaten und enge den Aktionsradius der nationalen Politik ein. Dass dies für Anhänger eines Europas der Vaterländer ein Sakrileg sein muss, liegt auf der Hand.

Wie jeder Vorwurf hat das Zerrbild einen, wenn auch klitzekleinen, wahren Kern. Der EuGH ist ein Höchstgericht, das seinen Auftrag, den Binnenmarkt zu hegen und zu pflegen, offensiv betreibt. Seit den 1960er-Jahren haben die Luxemburger Richter ihren Spielraum erweitert und das Primat des EU-Rechts durchgesetzt. Und es ist in der Tat leichter, ein nationales Gesetz per Richterspruch auszuhebeln, als eine analoge Regelung auf EU-Ebene durchzusetzen, denn dazu bedarf es der Zustimmung der anderen Unionsmitglieder und des Europaparlaments.

Doch genau das ist auch notwendig. Denn die EU ist längst viel mehr als eine lose geknüpfte Freihandelszone. Ihr Binnenmarkt ist die mit Abstand komplexeste grenzüberschreitende Maschinerie zur Schaffung von Wohlstand in der Geschichte der Menschheit. Dass Vorgänge wie der Anschlag auf die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte durch Polens populistische Regierung Sand ins Getriebe dieser Riesenmaschine streuen und in Folge den EuGH auf den Plan rufen, ist keine Überraschung. Denn ohne Richter gibt es keine fairen Verfahren – und ohne faire Verfahren können Unternehmer nicht sicher Verträge abschließen und Investoren nicht sicher investieren. Unabhängig von den Wunschvorstellungen selbst ernannter Verteidiger des kleinen Mannes in diversen Hauptstädten Europas erzwingt die Logik des gemeinsamen Binnenmarkts die Gewährleistung der demokratischen Gewaltenteilung.


Das Hickhack um Polen offenbart, welches Bild sich Populisten von Europa machen. Ähnlich wie Boris Johnson, der britische Premierminister in spe, sehen sie die EU als ewig währendes Kuchenbuffet, von dem sich nach Belieben naschen lässt: Die französischen Volkstribune würden am allerliebsten die Personenfreizügigkeit einschränken – wohlgemerkt nur für Osteuropäer. Die Osteuropäer wiederum würden Konzerne mit Sondersteuern belegen – allerdings nur die westlichen. Die Italiener würden alle Migranten nach Norden schicken, die Nordeuropäer die Grenzen nach Süden dichtmachen, und so weiter, und so fort – bis der Binnenmarkt balkanisiert ist und die EU an den solcherart neu entfachten alten Ressentiments zerbricht.

Nein, die EU ist kein All-you-can-eat-Buffet. Sie ist vielmehr – um bei der Gastronomie zu bleiben – ein ausgewogener Diätplan, der nicht nur Fett und Zucker beinhaltet, sondern auch Ballaststoffe und Rohkost. Und ja, die Teilnahme am Binnenmarkt erfordert Kompromisse und legt Schranken auf. Doch die Welt außerhalb der EU ist auch kein Schlaraffenland. Sie glauben mir nicht? Dann warten Sie den Brexit ab.

E-Mails an:michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2019)

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