Sechszylinder-Finesse ohne Wimpel-Folklore

Imposante Erscheinung: In Maximalvariante „Tour“ ist auf Hondas Flaggschiff keine Reise zu weit, gern auch zu zweit.
Imposante Erscheinung: In Maximalvariante „Tour“ ist auf Hondas Flaggschiff keine Reise zu weit, gern auch zu zweit.(c) Werk
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Hondas Gold Wing ist der rollende Superlativ auf zwei Rädern: Sie hat so viel Hubraum und mehr Zylinder als die meisten Autos, auch ein Airbag ist an Bord. Bei der neuen Generation ist der Fokus aber auf die Fahrdynamik gerichtet.

Das Schöne am Motorrad ist wohl die Vielfalt seiner Erscheinungsformen. Um gleich abzuschweifen: Es ist ja auch älter als das Automobil. Noch vor Benzens Patent-Motorwagen von 1886 brachten die Herren Daimler und Maybach ihren „Reitwagen“ auf zwei Rädern zum Laufen (mitsamt einer Stützkonstruktion, die spektakulären Schräglagen zugegeben etwas im Weg stand). Seither hat sich zwischen Vorder- und Hinterrad so ziemlich alles an Antriebsarten eingefunden, was Ingenieuren einfiel und noch in einen Rahmen passt. Auch Elektrisches ist im Heranziehen; BMW, Harley-Davidson und KTM haben schon E-Bikes im Programm.

Die Gattung jedenfalls zeigt alles vom hoch drehenden Schleifstein für Racing-Privatiers bis zum plotzenden Fauteuil, und Superlative gibt es in die eine wie die andere Richtung. Hondas Gold Wing gehört von Beginn an dazu, denn 1000 Kubik waren 1975 ein stolzes Maß. Die erste Gold Wing war ein Vierzylinder, aber schon als Boxer ausgeführt, um den Schwerpunkt tief zu halten – vordringlicher Zweck dieser Bauart, neben dem ruhigen Lauf. Zwei Generationen später ging es auf 1,5 Liter Hubraum, verteilt auf sechs Zylinder, man kennt diese Schiffe, meist mit Lehnsessel, oft samt Wimpel-Folklore, unterwegs von Cabo da Roca bis Nordkap.

Airbag auf Wunsch

Diese Zeit hat das Image der Baureihe gefestigt, unter den Fans ebenso wie unter den Verächtern, die der Gold Wing zuweilen gar absprechen, ein Motorrad zu sein.

Das bezieht sich auf die stattlichen Ausmaße und das Gewicht, das schon über 400 Kilogramm reichen konnte, und darauf, dass sich die große Honda einige typische Autokomponenten einverleibte, obwohl Radio, Bluetooth, Navi, Tempomat, Sitz- und Griffheizung mittlerweile Standard bei den großen Tourern sind. Seit ein paar Jahren gibt es sogar einen Airbag (direkt vor dem Fahrer in der Tank-Attrappe untergebracht, der Tank selbst sitzt tief im Dreieck des Rahmens). Wir hatten bei der Vorgängerin, schon mit 1,8-Liter-Sechszylinder, nicht das Gefühl, ein zweirädriges Auto zu fahren, aber ja: Richtig agil fühlte sich das nicht an, man hatte zu arbeiten, um dem Trumm seinen Willen und die gewünschte Linie aufzuzwingen.

Das hat sich mit der Neuauflage gründlich gewandelt. Mit dem 2018er-Jahrgang hat sich Hondas Flaggschiff ein Stück weit neu erfunden; mag sein, dass der Eintritt von BMW in den Zirkel der Sechszylinder-Tourer – kurioserweise nicht mit Boxer, sondern Reihenmotor – damit zu tun hat. Die Honda fuhr den Komfort-Overkill etwas zurück, ist kompakter, leichter (mit schmerzlichen Einbußen an Stauraum) und einen Hauch kräftiger geworden. Die Knöpferlwirtschaft – es gibt ja viel zu bedienen – ist aufgeräumt und in einem zentralen Bordsystem mit großem Display zusammengeführt. Kunstgriffe in der Konstruktion wie die Vorderradaufhängung mit Doppel-Querlenker haben Leichtfüßigkeit und Biker-Esprit in den Körper gezaubert: So sehr Motorrad war die Gold Wing nie.

Viele Fahrstile sind zulässig, ob man nun am Lenker zieht oder mit Hüftschwung den Lastwechsel einleitet; je nach Schräglage scheren irgendwann die Fußrasten, kein Malheur. Solo oder zu zweit unterwegs, das ändert am Vergnügen wenig, Vorteil der hohen Grundmasse. Dabei blieb die ganze Opulenz erhalten, allem voran die sagenhafte Kultiviertheit des bärenstarken Boxers, ohne Frage einer der schönsten Motoren, die es heute auf zwei Rädern gibt.

Zur typischen Fahrweise gehört, dass man selbst auf kurviger Straße oft kilometerlang nicht in die Bremse greift oder steigt, weil das Tempo allein mit dem Gasgriff geregelt wird; Kupplungshebel gibt es keinen, man staunt, wie das Automatikgetriebe mit seinen sieben Gängen stets Herr der Lage ist und nicht ein einziges Mal, unsere Absichten missdeutend, mit der Schaltarbeit danebenliegt. Sobald man den Handbremshebel greift, wird unerbittliche Bremsgewalt spürbar, auf dem Riesenbike ein wohltuender Eindruck totaler Kontrolle.

Viel ließe sich noch schwärmen, aber halten wir fest: Wer gern Motorrad fährt, wird die Große lieben, und sei es als Seitensprung. In den meisten Fällen wohl eine unerwiderte Zuneigung: Auch preislich steht die Gold Wing relativ einsam an der Spitze.

HONDA GL1800 GOLD WING

Maße:L/B/H: 2575/905/1430 mm
Radstand: 1695 mm, Leergewicht: 383 kg („Tour“ DCT, fahrbereit, vollgetankt)

Motor: Sechszylinder-Boxer, 1833 ccm
Leistung: max. 93 kW (126 PS) bei 5500/min, Drehmoment: max. 170 Nm bei 4500/min
Siebengang-DCT-Getriebe inklusive Rückwärtsgang
Kardanantrieb
Tankinhalt: 21,1 Liter
Sitzhöhe: 745 mm
Testverbrauch: 6,0 l/100 km
Preis: 40.990 Euro („Tour“ DCT)

Compliance-Hinweis:

Die Reisen zu Produktpräsentationen wurden von den Herstellern unterstützt. Testfahrzeuge wurden kostenfrei zur Verfügung gestellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2019)

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