Einen Bürgerkommissar für die EU, bitte!

(c) Peter Kufner
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Es ist Zeit für ein völlig neues, naheliegendes Amt in der Europäischen Kommission.

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Europa steht vor entscheidenden Weichenstellungen. Ursula von der Leyen versprach den Abgeordneten des Europäischen Parlaments vor wenigen Tagen eine Bürgerversammlung, die im Rahmen einer Zukunftskonferenz stattfinden könnte. Das ist wichtig. Jedoch: Die nächste Europäische Kommission sollte nun noch viel weiter gehen und einen Bürgerkommissar ernennen.

Einerseits gilt es, Vertrauen zurückzugewinnen und die Gräben zwischen EU und den Bürgern nach dem Personalpoker zu schließen. 51 Prozent der Wahlberechtigten gingen im Mai 2019 zur Europawahl – mehr als je zuvor in der EU der 28 Mitgliedstaaten. Gruppen und Initiativen hatten landauf, landab mobilisiert: vom Zentralverband des deutschen Handwerks bis zur Kultur-, Sportler- und Unternehmerinitiative Alliance4Europe, von CEOs börsenotierter Unternehmen bis hin zu den Stadtversammlungen Pulse of Europe. Diese oft kraftvollen Allianzen aus der Gesellschaft heraus benötigen einen Rahmen, in dem sie sich in dieser kommenden, schwierigen EU-Legislaturperiode nachhaltig einbringen können.

Bürgerbeziehungen stärken

Andererseits braucht es einen Bürgerkommissar (Citizen Commissioner), um das Feld der Bürgerbeziehungen zu institutionalisieren. Im Vergleich zu anderen Ressorts wie Wettbewerb oder Handel liegt dieses rechtlich, strukturell, finanziell und politisch brach. Das Vertrauen der Bürger in die EU stellt das schwächste Glied der Kette dar, weist zugleich aber das größte Potenzial für eine starke EU auf.

Das Amt wäre aus den Artikeln 2, 3, 10, 11, 13 und 17 des Vertrags über die Europäische Union herzuleiten, in denen es um die Grundsätze und Grundwerte der EU und um deren Umsetzung durch die Europäische Kommission geht. Zur Begrifflichkeit: Das Feld umfasst „Bürger“ in ihrer Rolle etwa als Unionsbürger, wie wir sie laut Maastrichter Vertrag alle sind. Manche Bürger engagieren sich aktiv in der gewachsenen organisierten Zivilgesellschaft – etwa beim Roten Kreuz oder der Caritas.

Viele allerdings engagieren sich in der zeitgenössischen Zivilgesellschaft – also in Kampagnengruppen wie Aufstehn.at oder Change.org, in Bürgerräten (etwa auf Basis von Losverfahren), oder sie sind in paneuropäischen Gruppen aktiv.

Vielfältige Kampagnengruppen

Zur Völkerverständigung und zur Demokratie etwa arbeiten The Good Lobby, More in Common, European Alternatives, der Verein Mitost oder das Europäische Jugendparlament. Auch Themen wie die Shared Economy und Sozialinnovation werden oft zivilgesellschaftlich bearbeitet.

Weiters sind lokale Vorhaben im Spektrum von Europas Zivilgesellschaft anzusiedeln, etwa die Mitmachtheater von SpectACT in Tirol oder die Bürgerräte in Vorarlberg. Den Aktiven geht es darum, die Grenze von Gemein- und Partikularinteressen neu auszutarieren, politische Ideen durch Abruf der „Weisheit der vielen“ anzureichern. Und sie stoßen Transformationsprozesse wie die Klima- und Wirtschaftswende von unten her an – aus der akademischen wie der Wirtschaftswelt heraus.

Ressource statt Plage

Warum ein EU-Bürgerkommissar? Erstens, Bürger sind Ressource statt Plage. Politik und Institutionen unterschätzen aktive Bürgerschaft, Zivilgesellschaft und Beteiligung systematisch; in Gremien reiht man diese Punkte reflexartig nach hinten. Beispiel Erasmusprogramm für Studenten und Mobilitätsprogramme für Jugendliche, Lehrlinge und Start-ups: Politische Verantwortliche könnten gerade in Zeiten von Krise und Komplexität vieles an Signalen und Ideen aus dem heutigen „Erasmus Europa“ abrufen.

Doch werden diese Programme nicht strategisch betrieben. Es fehlen Schnittstellen zu nach wie vor hoheitlich betriebenen Reformprozessen oder globalen Neuausrichtungen der EU. Deutlich wurde dieser blinde Fleck 2017: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker präsentierte fünf Szenarien zur Zukunft der EU. Wenige Wochen später musste ein eilig eingesetzter Sonderberater einen Extrabericht nachliefern, „Auf die Bürger der EU zugehen – die Chance nutzen.“ Der Bericht wurde kaum bemerkt. 2019 wäre er nach wie vor eine gute Arbeitsgrundlage für einen EU Bürgerkommissar.

Zweitens, Bürgerbeziehungen sind als Strategieportfolio zu sehen. Bürger sind Seismografen zu den Großthemen, welche die Politik aufgreifen muss. Zu Klima, Technologie und Sozialem gehen Bürger seit Jahren auf die Straße. Man sah Märsche zu digitalen Freiheitsrechten im eiskalten Winter in Sofia und etwa für die plurale Gesellschaft in Barcelona.

Diese Einsicht macht den aufsuchenden und zuhörenden Politik- und Institutionenbetrieb heute unerlässlich. Noch kann kein Algorithmus die frühen, schwachen Signale da draußen aufgreifen. Das Know-how, um Europas Zukunft erfolgreich zu gestalten, liegt in den Köpfen der 500 Millionen Bürger.

Europas Bürger gehören von Anfang an und auf Augenhöhe in Reformüberlegungen mit einbezogen, sodass Akzeptanz entsteht. Bürger gehören auch in jenen Prozess, in dem die nächste Kommission ökonomische und ökologische Interessen zur Aushandlung Richtung Klimawende wird versammeln müssen.

Drittens, der „Non-Profit-Binnenmarkt“ steckt bestenfalls in den Kinderschuhen. Egal, ob jemand Stifter ist oder ein Verein – grenzüberschreitendes, europaweites Handeln ist für beide schwierig. Gesellschaftsrechtlich und steuerrechtlich ist hier vieles möglich und nötig, um die Potenziale des gemeinnützigen Europas zu heben.

Gemeinnütziger Binnenmarkt

Weiters würde ein Bürgerkommissar das Feld der Bürgerbeziehungen, Zivilgesellschaft und Beteiligung auch professionalisieren. Die Szene krankt derzeit an „Projektitis“, also kurzfristigen, tapferen Einzelmaßnahmen ohne Strahlkraft oder Schnittstellen zur Macht, weil die meisten Fördermodelle auf zwei- bis dreijährige konkrete Projekte möglichst ohne Personal- und institutionelle Kosten beschränkt sind. Sobald es um Zivilgesellschaft geht, sollen Einzelpersonen schier Unmögliches leisten: Sie sollen Ideen entwickeln, Organisationen bauen, Menschen führen, Massen begeistern, Politik beeinflussen, Kommunikation meistern und – nicht trivial – Projektgelder überhaupt erst einmal auftreiben.

Institutionelle, langfristige Finanzierungs- und Fördermodelle für Non-Profit-Arbeit sind rar. Auch fehlen Risikokapitalmodelle für sogenannte civic entrepreneurs, die bei profitorientierten Start-up-Firmen längst Erfolg zeigen.

Wer heute Bürgerbeziehungen, Beteiligung und Zivilgesellschaft in der EU „sich selbst überlassen“ will, ist im besten Fall naiv, im schlimmsten Fall fahrlässig. Diese Themen sind strukturiert, strategisch und nachhaltig zu bearbeiten. Das stärkt die aktiven Pro-Europäer und damit die gesamte Europäische Union.

Die Autorin

Mag. Verena Ringler M. A. ist europäische Strategieberaterin mit Sitz in Innsbruck. Bis 2018 baute sie das Europaprogramm der Stiftung Mercator mit auf, zuvor war sie für den Europäischen Rat im Kosovo. Sie studierte in Innsbruck, Uppsala und an der Johns Hopkins University (SAIS). www.europeancommons.eu

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2019)

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