Eine Warnung vor Boris Johnson

Nur wer sich den Brexit schönreden möchte, ist beim favorisierten künftigen Premierminister gut aufgehoben – einer Stimmungskanone in eigener Sache.

Es ist eine Schwäche intellektueller Persönlichkeiten, Fakten und Statistiken zur Untermauerung ihrer eigenen Meinung zu selektieren und zu interpretieren. Manipulativ mag das sein, verwerflich ist es nicht, solange keine bewusst falschen Fakten oder falsche Zahlen in die Debatte eingebracht werden. Erst wenn diese Grenze überschritten ist, stellt sich die Frage nach Anstand und Moral. Boris Johnson hat diesen Rubikon – der ja eigentlich nur ein kleines Flüsschen ist – schon mehrfach überschritten.

In der kommenden Woche müssen sich die Tory-Mitglieder und voraussichtlich bei baldigen Neuwahlen alle Briten fragen, ob sie einen Premierminister wollen, der für seine Popularität bereit ist, Faktisches hintanzustellen. Es ist allein ihre Abwägung. Aber sollte Johnson tatsächlich neuer Regierungschef Großbritanniens werden, haben nicht nur seine Wähler, sondern hat ganz Europa ein Problem. Er bringt weder die notwendige Seriosität noch das notwendige Verantwortungsgefühl für diesen Posten mit. Und das in einer heiklen Zeit.

Wie soll sein Land auf vernünftige Weise aus der EU austreten, wenn dessen Bevölkerung mit immer neuen Unwahrheiten verstört wird? Weder hat es der Wahrheit entsprochen, als Johnson in seiner Brexit-Kampagne behauptet hat, sein Land müsse wöchentlich 350 Mio. Pfund an die EU zahlen, noch stimmt es, dass die EU-Bürokraten daran schuld sind, dass geräucherter Fisch nur noch mit Kühlpads ausgeliefert werden darf. Letzteres verbreitete er – einen in Plastik verpackten Hering schwenkend – in seiner abschließenden Wahlkampfrede für die innerparteiliche Nominierung zum May-Nachfolger. Die EU-Kommission korrigierte die Fischfalschmeldung zwar: Die Regelung sei ein rein britisches Gesetz und habe nichts mit der EU zu tun, aber sie wird bei Teilen der Tory-Parteimitglieder sowieso kein Gehör mehr finden. Die Brexit-Hardliner sehen keinen Grund mehr, ihre Meinung über die EU zu differenzieren. Sie sind – und Boris Johnson hat ausreichend dazu beigetragen – der Illusion aufgesessen, Großbritannien werde von den Fesseln der EU befreit endlich wieder wirtschaftlich und gesellschaftlich florieren.

Keine Fakten, nur Emotionen: So punktet Johnson. Vergessen ist längst, warum das Land 1972 der damaligen EG beigetreten ist. Es war nicht die Begeisterung für eine europäische Zusammenarbeit, es waren schlicht wirtschaftliche Gründe. Großbritannien war durch eigene Misswirtschaft und Massenstreiks ökonomisch am Boden, sein Wachstum lag weit unter jenem der anderen westeuropäischen Länder.

Faktum ist auch, dass der Brexit die Bevölkerung bereits so gespalten hat wie kaum eine andere Frage der jüngsten britischen Geschichte. Es gibt derzeit nur Schwarz und Weiß, keine Grauzonen mehr. Wird diese Kluft noch tiefer, gehen Schottland und Nordirland in naher Zukunft ihre eigenen Wege.

Boris Johnson nimmt – und das ist sein größter Fehler – all das nicht ernst. Als er einst gefragt wurde, ob er einmal Premierminister werden könnte, sagte er: Das sei etwa so wahrscheinlich, „wie Elvis auf dem Mars zu begegnen, oder wie meine eigene Reinkarnation als Olive“. Ja, er ist witzig und rhetorisch manchmal brillant. Aber wer mit den Worten spielen kann, kann auch blenden. Das ist ihm als Londoner Bürgermeister geglückt, und sogar einige Zeit als Außenminister. Es wird ihm allerdings kaum gelingen, wenn es um die komplexe Frage des EU-Austritts geht.

„Raus, notfalls ohne Deal!“, ruft er heute. Wird Johnson Premier, wird selbst das nicht so einfach zu bewerkstelligen sein. Denn ohne Übergangsregelung ist sowohl der Nordirland-Friede als auch die wirtschaftliche Stabilität Großbritanniens gefährdet. Den unbeliebten Backstop, den vorübergehenden Verbleib in einer Zollunion, um Kontrollen an der inneririschen Grenze zu vermeiden, beschreibt er gern als „Einkerkerung“ durch die EU. Faktum ist, diese Option wurde nicht von EU-Seite, sondern einst, als Johnson noch Außenminister war, von London als Ausweg eingebracht.

Doch wen kümmert schon die Wahrheit in Zeiten der Stimmungen und Inszenierungen?

E-Mails an:wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2019)

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