Tränen der Buße, Schreie um Erbarmen, Stürme des Jubels

SALZBURGER KOLLEGIENKIRCHE
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Unter dem Motto „Lacrimae“ steht heuer die Ouverture spirituelle: Begeisterung in der Kollegienkirche für Orlando di Lassos „Lagrime di San Pietro“, inszeniert von Peter Sellars; und im Mozarteum für konzertante Sakralmusik von Jan Dismas Zelenka unter Václav Luks.

Am Schluss gab's feuchte Augen bei den Standing Ovations für die Eröffnung der Ouverture spirituelle: beim Regisseur Peter Sellars, beim Dirigenten Grant Gershon und etlichen Mitgliedern des Los Angeles Master Chorale, den er seit 17 Jahren leitet, und natürlich auch im Publikum. Das gehört sich auch so, könnte man sagen, stehen doch die Tage der musikalischen Einkehr und des Innehaltens vor dem eigentlichen Festivaltrubel heuer unter dem Motto „Lacrimae“ – und die „Lagrime di San Pietro“ des Orlando di Lasso (aus seinem Todesjahr 1594) bildeten den szenisch gedeuteten Auftakt.

Ágnes Heller, die dieser Tage 90-jährig verstorbene Philosophin, ließ sich von ihrer – durchaus kritisch unterfütterten – Liebe zu den USA nicht abbringen, wo sie teilweise gelebt und gearbeitet hatte. „Die Menschen dort sind unglaublich hungrig auf Kultur und Wissen“, sagte sie, freilich noch vor der Trump-Ära, in der „Süddeutschen“. Einmal habe sie einen Rechtsanwalt gefragt, warum er in ihre Vorlesungen komme. Weil er den Sinn des Lebens verstehen wolle, so seine Antwort. „Das ist natürlich naiv, ein Europäer würde so etwas nicht sagen, aber ich verstehe, was er meint. Die Amerikaner sind nicht zynisch, sie haben Hoffnung und glauben an die Freiheit. Der europäische Zynismus glaubt an gar nichts.“ So betrachtet sind die Festspiele im Allgemeinen und die Ouverture spirituelle im Besonderen ein Manifest wider diesen Zynismus – und Sellars verkörpert dabei die sozusagen ehrliche, hochqualifizierte Naivität aus den USA, die edle Hoffnung, den Appell an das Gute im Menschen und zugleich das Vertrauen darauf.

Lassos glorioses musikalisches Vermächtnis, eine Identifikation mit Petrus als Inbegriff des reuigen Sünders in 21 siebenstimmigen Gesängen, macht Sellars mit den 21 grau gewandeten Sängerinnen und Sängern, die die schöne Mitte treffen zwischen Klangfülle und Transparenz, zu einem körperlichen Musiktheater des Gestikulierens, Sich-Windens oder -Wälzens, der zappelnden Glieder und der Demutshaltung, ja des Gebets in ständiger Interaktion. Wirken anfangs viele aus dem Text abgeleitete Bewegungen noch allzu direkt, entwickelt sich doch eine Kraft, die eine rein konzertartige Aufführung nicht hätte. Und man folgt mit Hingabe seinen rasch gefundenen Lieblingen mit den ausdrucksvollsten Gesichtern. Wenn sich am Ende alle in Zweier- und Dreiergruppen umarmen – das heißt: nicht einfach oberflächlich um den Hals fallen, sondern in gegenseitiger Wertschätzung und Vergebung annehmen –, dann darf sich auch das Publikum mit geherzt fühlen und losgesprochen von seinen Sünden.

Wie eine Matthäus-Passion auf Speed

Die biblische Verzweiflung des Heulens und Zähneknirschens schockierte am Vormittag darauf im großen Saal des Mozarteums, wo die vokalen und instrumentalen Kräfte des Collegium 1704 unter Václav Luks glänzten. Wie eine Bachsche Matthäus-Passion auf Speed beginnt das c-Moll-Miserere des von Bach geschätzten, aber lange Zeit vergessenen Jan Dismas Zelenka: Der Ruf um Erbarmen scheint direkt aus der Hölle zu kommen mit seinen hinkenden, schnarrenden Orchesterbässen und den herb aufschreienden Chorstimmen – doch plötzlich weicht dem Hinablauschen ins Inferno leichtfüßig-aufgeräumte Fugenherrlichkeit, wenn auch komponiert auf denselben Miserere-Text. Solch enorme Gegensätze häufen sich in diesem unerhört expressiven, 1738 in Dresden entstandenen Stück, das Zelenka ebenso als einen Großen ausweist wie seine nach der Pause gegebene repräsentative Missa Omnium Sanctorum, in der sich monumentale Wirkungen mit ingeniös erfundenen und ausgeführten Details verbinden, Stilprinzipien ineinanderfließen oder für Kontrastwirkungen herangezogen werden und der Wechsel zwischen Solostimme, Soli und Chor völlig organisch verläuft.

Was hervorheben aus einer Fülle der Inspiration? Da plappert das Thema der „Cum Sancto Spiritu“-Fuge 13 Silben lang auf demselben Ton dahin, um sich dann in Akkordzerlegungen aufzuspalten, da formen die Schlussfugen von Kyrie und Agnus Dei mit demselben chromatisch eingefärbten, auf dem Papier keilförmig aussehenden Thema einen zyklischen Zusammenhang: nochmals Standing Ovations.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2019)

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