Johnson, ein Mann des Volkes?

Sind die Briten verrückt oder einfach undankbar? Gedanken zur Wahl des künftigen Tory-Parteivorsitzenden.

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Volksvertreter sollten, wie schon der Name verrät, in irgendeiner Form die Wähler vertreten. Ein reines Spiegelbild der Gesellschaft war das Parlament nie in dem Sinn, dass alle Gruppen getreu vertreten waren. Doch die Ansichten des Volks sollten unter gebührender Berücksichtigung der Interessen der Minderheiten vertreten sein. Es besteht allerdings bisweilen der Eindruck, dass Abgeordnete vieler Parlamente Interessen haben, die von jenen der „einfachen Leute“ stark abweichen.

In Großbritannien fühlten sich die Wähler schon lang vor dem Brexit vom Parlament entfremdet – und seither hat sich die Lage verschlimmert. Das Parlament übertrug seine Souveränität, um das Volk in einem Referendum über die EU-Mitgliedschaft entscheiden zu lassen. Eigentlich war es die Aufgabe des Parlaments, das Ergebnis umzusetzen, und daran ist es kläglich gescheitert. Viele Menschen misstrauen dem Parlament, da es als Anti-Brexit-Institution wahrgenommen wird, die entschlossen ist, den „Willen des Volkes“ zu vereiteln.

Die Kluft zwischen dem Establishment und Brexit-Wählern war vor allem in Wales sehr deutlich. Einige Bezirke, die hohe Subventionen aus der EU-Kasse erhalten, erzielten das höchste Brexit-Votum. Sind die Briten wirklich verrückt, wie Asterix uns glauben machen würde, oder einfach ausgesprochen undankbar? In Interviews beschwerten sich zahlreiche Wähler darüber, dass das Geld unbedacht für angebliche kosmetische Projekte wie Straßenkunst ausgegeben worden sei und ihre Wünsche ignoriert wurden. Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch, und die Schließung alter Industrien führte zur Verzweiflung. Die Jungen haben gewiss von den Projekten profitiert, die die EU finanzierte, doch ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber der Politik besteht fort.

Drei Jahre nach dem Referendum und zwei verstrichene Fristen später war die landesweite Enttäuschung über das Nichtzustandekommen des Brexit bei den Wahlen zum Europäischen Parlament allzu offenkundig. Die Brexit-Partei von Nigel Farage bot Hoffnung anstelle von Angst und behauptete, sie würde die Demokratie verteidigen und das Vertrauen in die Politik wiederherstellen. Diejenigen, die den Verbleib in der EU befürworteten, waren gespalten und gezwungen, zumeist negative Parolen zu murmeln – gegen Brexit und gegen Farage.

Diejenigen, die für den Austritt aus der EU sind, sind überzeugt, dass die parlamentarische Demokratie sie nicht repräsentiert. Und die Verfechter einer selbst ernannten „Brexit-Demokratie“ behaupten, dass sie das Volk im Gegensatz zum Parlament wirklich repräsentieren würden.

Perikles der Moderne?

Boris Johnson, der im vergangenen Jahr niemals von der Mehrheit der Abgeordneten der Conservative Party unterstützt worden wäre, konnte aus diesem Klima seinen Nutzen ziehen. Er sieht sich selbst als moderner Perikles, ein charismatischer Populist und Mann des Volkes, der „echte Demokratie“ fördert.

Es ist durchaus möglich, dass das Parlament im Herbst versuchen wird, einen No Deal zu verhindern. Für den nächsten Premierminister der Conservative Party könnte dies sogar begrüßenswert sein. Er kann behaupten, dass das Parlament die Regierung und den „Willen des Volkes“ sabotiere, und muss nicht gleich zugeben, bei der Umsetzung des Brexit gescheitert zu sein. Das Auseinanderdividieren von Parlament und „wahrem Volk“ aber ist ein problematisches Spiel, die Konsequenzen haben kann für die Demokratie.

Melanie Sully (*1949) ist gebürtige Britin, Politologin und Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2019)

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