Alte Manuskripte und der Text unter dem Text

Das Katharinenkloster am Sinai beherbergt einen Schatz an antiken Handschriften.
Das Katharinenkloster am Sinai beherbergt einen Schatz an antiken Handschriften.(c) Berthold Werner
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Antike Pergamentblätter wurden oft mehrmals benutzt, was sich am Beispiel der Handschriften aus dem Katharinenkloster auf dem Sinai zeigt. Für die Forschung werden ausradierte Texte mit einem digitalen Verfahren wieder lesbar gemacht.

Durch eineinhalb Jahrtausende durchwegs bewohnt und im christlichen Leben eine Ausnahmeerscheinung: Das im 6. Jahrhundert begründete Katharinenkloster im Zentrum des Sinai ist nicht nur ein häufig angepeiltes Reiseziel und eine von Ägyptens Weltkulturstätten, sondern befindet sich schon seit einigen Jahren im wissenschaftlichen Fokus der Wiener Byzantinistin Claudia Rapp. Im Zuge ihres Forschungsprojekts „Mobilität, Mikrostrukturen und Handlungsspielräume in Byzanz“ hat sie mit ihrem Team auch die reiche Handschriftenbibliothek des heutigen griechisch-orthodoxen Klosters durchforstet.

Die Pergamente der frühen Manuskripte wurden nach Entfernung der ursprünglichen Texte gleich mehrmals verwendet. „Es ist ein seltener Glücksfall, wenn in ausradierten Texten auch unerwartete Funde gemacht werden“, sagt Claudia Rapp. Eine ihrer Mitarbeiterinnen, die Italienerin Giulia Rossetto, hat in diesem Semester ihre diesbezügliche Handschriftenforschung an der Uni Wien als Dissertation eingereicht. Mit der Multispektralfotografie wurde Schicht für Schicht der Manuskripte freigelegt. So kommen in einigen stark beschädigten Sinai-Blättern Texte in antiken Hexametern zum Vorschein, die die Jugend des Gottes Dionysos zum Inhalt haben. Der Text wurde wahrscheinlich im 6. Jahrhundert v. Chr. verfasst und über Jahrhunderte immer wieder kopiert. Die von Rossetto editierte Handschrift wurde vermutlich um 500 n. Chr. in Alexandrien angefertigt und kam von dort ins Katharinenkloster.

Für ihre Byzanz-Forschung wurde Claudia Rapp 2015 mit dem vom Wissenschaftsfonds FWF vergebenen Wittgenstein-Preis – dem mit 1,5 Millionen Euro am höchsten dotierten österreichischen Forschungspreis – ausgezeichnet. Die Wissenschaftlerin stellte die vielfältigen Formen der Mobilität im byzantinischen Reich in den Mittelpunkt der Forschung. In den entlegensten Gebieten des Reiches, das sich in seiner Blütezeit von Nordafrika bis nach Spanien, über den Vorderen Orient und große Teile Italiens erstreckte, wurden Sitten und Gebräuche des Zentralraums übernommen. Im Gegenzug beeinflusste die Peripherie das Leben der Hauptstadt.

Aufstieg und sozialer Austausch

Neben dem sozialen kam es auch zu einem Austausch der unterschiedlichen Ethnien. Rapp nennt hier das Beispiel des griechischen Bauernsohns Basileios, der es durch die Zuneigung adeliger Familien bis an die Spitze des Reiches schaffte und die Makedonische Dynastie begründete. Sieht man von den Soldatenkaisern des Weströmischen Reiches ab, ist ein derartiger Aufstieg aus der untersten Schicht in den europäischen Herrschaftsgebieten eher unüblich.

Es sind insgesamt drei Projekte, in die sich die von Wien ausgehende aktuelle Byzanz-Forschung gliedert: Der Wittgenstein-Preis verfügt über eine Laufzeit von fünf Jahren, im November 2020 soll mit einer Abschlusskonferenz eine Bilanz gezogen werden. Mit dem von der Akademie der Wissenschaften und dem FWF geförderten „Vienna Euchologia Project“ werden anhand von byzantinischen Gebeten zu verschiedenen Alltagsanlässen Situationen des sozialen Zusammenlebens erforscht. Und drittens konzentriert sich das „Sinai Palimpsests Project“, das unter anderem von der Uni Wien getragen wird, auf die Handschriften des Katharinenklosters.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2019)

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