Was passiert, wenn man den Alltag plötzlich nicht mehr allein meistern kann? Seit einem Jahr bezieht Anna Turecek Pflegegeld – wie 462.582 weitere Menschen in Österreich. Über Einsamkeit, Bürokratie – und was die Wahl daran ändern könnte.
Noch vor einem Jahr konnte Anna Turecek, bald 90 Jahre alt, noch völlig autonom leben. Sogar die obersten Regale mit den eingerahmten Familienfotos im Wohnzimmer entstaubte sie noch selbst, überhaupt kümmerte sie sich allein um den Haushalt in ihrer Liesinger Wohnung. Ohne fremde Hilfe konnte sie auch zwei Stockwerke die Treppen hinuntersteigen, um eine Runde im Park zu spazieren. Doch dann passierte es: Durch einen Schwächeanfall stürzte sie, Turecek brach sich den Oberschenkelhals. Nun ist sie eine von 462.583 Personen in Österreich, die Pflegegeld beziehen. Und auf Unterstützung von ihrer Familie und fremden Betreuern angewiesen ist. „Allein würd ich es einfach nicht mehr schaffen“, sagt sie. „Man braucht ja für alles mindestens doppelt so viel Zeit wie früher. Und es wäre auch trostlos.“
Jeden Samstag kommt eine Haushaltshilfe, um sich um die Wohnung zu kümmern. Montag, Mittwoch und Freitag hilft eine Betreuungsperson vom mobilen Pflegedienst der Caritas Turecek bei der Körperpflege – den Rücken und die Füße kann sie sich nicht mehr allein waschen. Auch ihr Verband wird bei der Gelegenheit gewechselt. Alle weiteren Tätigkeiten übernehmen Tureceks Kinder. Nach dem Sturz nahm sie ihre Tochter bei sich auf, bald wollte Turecek aber wieder in ihrer eigenen Wohnung leben – wenn auch mit Hilfe. Und mit Einschränkungen.
Tureceks größte Angst, erzählt sie, sei ein weiterer Sturz. „Ich fahre also überall mit meinem Rollator herum.“ Nur ab und zu kann sie die Wohnung verlassen, „dann halte ich mich am Stiegengeländer fest, und meine Tochter ist hinter mir für den Notfall“. Möglich ist das aber natürlich nicht immer. Denn ihre Kinder kümmern sich zwar viel um ihre Mutter – der Enkel wohnt auch im unteren Stockwerk –, sie sind allerdings alle berufstätig. „Ich bin viel allein, weil es nicht anders geht. Auch die Kinder müssen ihr eigenes Leben leben.“ Ein Stapel Zeitungen und Bücher stehen in der Ecke, „das hilft ein bisschen über die Einsamkeit hinweg, genauso wie der Fernseher“. Dann relativiert Turecek auch wieder: „Das Gefühl kann man ja natürlich auch haben, wenn man jünger ist.“
»»Ich wusste nicht, wie ich das Rad in Bewegung bringen sollte. «
Brigitte Rudolf,pflegt ihre Mutter
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Auch ihre Tochter, Brigitte Rudolf, kennt das Gefühl. Wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Seit 2004 ist sie selbst im Pflegebereich bei der Caritas tätig. „Ich bin also vom Fach und kenne das Prozedere. Und trotzdem hatte ich nach dem Sturz meiner Mama das Gefühl, dass man ziemlich allein gelassen wird.“ In so einer Situation „braucht man gefühlt tausend Scheine, kennt sich aber mit dem weiteren Vorgehen nicht aus“.