Das Dorf hilft „unsichtbaren“ Kindern

Jedes vierte bis fünfte Kind wächst in einer Familie auf, in der zumindest ein Elternteil psychische Probleme hat.
Jedes vierte bis fünfte Kind wächst in einer Familie auf, in der zumindest ein Elternteil psychische Probleme hat.(c) Juliane Liebermann/Unsplash
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Kinder psychisch erkrankter Eltern haben es oft schwer. Das Projekt „Village“ sucht Wege, um zu verhindern, dass sie Außenseiter werden und selbst erkranken.

Kinder, die dringend Hilfe benötigen, die aber nur selten tatsächlich Unterstützung bekommen: Sie stehen im Mittelpunkt des Forschungsprojekts „Village“ („Dorf“) der Ludwig Boltzmann Gesellschaft in Wien und der Medizinischen Universität Innsbruck. Konkret geht es um Kinder, deren Eltern psychisch erkrankt sind.

„Bei ihnen ist das Risiko, selbst psychische Probleme zu bekommen, besonders groß“, schildert Jean Paul, aus Australien stammende Sozialwissenschaftlerin und Leiterin des Vorhabens. „Damit beginnt ein generationenübergreifender Teufelskreis.“ Hilfe bleibt solchen Kindern zumeist verwehrt, der Teufelskreis wird daher selten durchbrochen. Warum das so ist und wie man das ändern könnte, steht im Fokus des im Vorjahr in Tirol gestarteten Projekts.

Über einige Aspekte der Ursachen weiß man mittlerweile bereits Bescheid. Was in bisher durchgeführten Workshops im Rahmen des Projekts bestätigt wurde: „Eltern mit psychischen Problemen sind oft nicht in der Lage, ihren Kindern jene Förderung und Unterstützung zuteil werden zu lassen, die diese in ihrer Entwicklung brauchen würden.“ Darunter leiden letztlich auch die Schulleistungen, neben der emotionalen Reifung bleibt auch der kognitive Fortschritt auf der Strecke.

Den Teufelskreis durchbrechen

Viele betroffene Kinder werden zu Außenseitern, sind stigmatisiert und sozial isoliert. Dabei haben sie durchaus Stärken, so wie andere Kinder auch. „Unser Ansatz baut darauf auf“, erläutert Paul. In den ersten Projektschritten wurde daher versucht, mit Hilfe von Gesprächs- und Interaktionsanalysen herauszufinden, welche Bedürfnisse und welche Stärken jedes einzelne Kind hat, um danach Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Stärken am besten forciert werden und welche Interventionen dazu beitragen können, den Teufelskreis zu stoppen.

Die Inanspruchnahme einzelner institutioneller Angebote sei dabei zu wenig, sagt Paul. „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“, lautet ein afrikanisches Sprichwort, von dem das Projekt „Village“ seinen Namen bezieht. Das heißt: Um nachhaltig helfen zu können, müsse das gesamte soziale Umfeld des betroffenen Kindes, sein „Dorf“, vernetzt werden.

Es gelte, alle in Frage kommenden Ressourcen, formelle wie informelle, zu nutzen. Die Palette reicht von professionellen Einrichtungen über Selbsthilfegruppen bis hin zu Hausärzten oder Lehrern. Dabei ist natürlich besondere Sensibilität gefragt, um die Betroffenen nicht bloßzustellen. Dass diese Vernetzung gar nicht so leicht ist, hat sich bereits gezeigt: So gibt es in Tirol zwar institutionelle Hilfsangebote, diese sind jedoch beispielsweise aus geografischen Gründen nicht für alle leicht zugänglich.

Schwierigkeiten bereitet aber auch schon die vorgelagerte Aufgabe, Betroffene überhaupt erst zu identifizieren. Nur ein Teil der Menschen mit psychischen Problemen scheint in medizinischen Statistiken auf, stationäre Behandlungen erfassen nur schwerwiegende Fälle.

Tirol als Vorbild für Österreich

Viele Erkrankte bekommen lediglich von ihren Hausärzten Mittel verschrieben, andere suchen – etwa aus Scheu oder Scham – gar nie um medizinischen oder psychologischen Beistand an. „Als Folge davon bleiben die Kinder solcher Eltern ,unsichtbar‘, es kann ihnen somit auch nicht geholfen werden“, weiß man beim Ludwig Boltzmann Institut. Genaue Zahlen gibt es daher nicht. Jean Paul meint jedoch, dass es sich keineswegs um ein seltenes Randphänomen handelt: Etwa jedes vierte bis fünfte Kind, so schätzt sie, wachse in einer Familie auf, in der zumindest ein Elternteil psychische Probleme hat.

In den nächsten Projektschritten werden neu entwickelte Hilfsangebote implementiert und evaluiert. Letztlich sollen die gewonnenen Erkenntnisse veröffentlicht werden. „In Tirol haben wir begonnen, weil die dörfliche Struktur für unser Vorhaben sehr geeignet erschien, und weil zudem mit Wolfgang Fleischhacker ein Psychiater an der Spitze der Medizinischen Universität in Innsbruck steht“, so die Sozialwissenschaftlerin. In Zukunft kann sich Paul eine Ausweitung auf weitere Regionen in Österreich vorstellen, um auch dort den ,unsichtbaren‘ Kindern ein Ausbrechen aus dem Teufelskreis zu ermöglichen.

LEXIKON

Angststörungen und Depressionensind die häufigsten psychischen Erkrankungen. 17,7 Prozent aller Österreicher leiden darunter. Damit liegt Österreich knapp über dem EU-Schnitt (17,3 Prozent). Die Zahl der vorzeitigen Pensionierungen aufgrund psychischer Erkrankungen hat sich hierzulande seit den 1990er-Jahren fast verdreifacht, in zehn Jahren sollen Depressionen (Burn-out gilt als Vorstufe) vor Herzkrankheiten an erster Stelle der gesundheitlichen Einschränkungen stehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2019)

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