Andere Balkanroute und andere Migranten

(c) Peter Kufner
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Bihać in Bosnien und Herzegowina hat sich zu einem neuen Brennpunkt der Flüchtlingswelle entwickelt, wie ein Lokalaugenschein zeigt. Migranten vor allem aus Pakistan und Afghanistan wollen von dort aus weiter in den Norden.

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Unabhängig davon, ob das Thema Migration im intensiver werdenden Wahlkampf eine wichtige Rolle spielt oder nicht – und unabhängig davon, wie man meint, dass mit dem Migrationsthema in Europa umgegangen werden soll, ist es jedenfalls notwendig, sich über die aktuelle Situation – nach Möglichkeit vor Ort – ungeschminkt und emotionslos zu informieren. Schon deshalb, um nicht erneut von einer dramatischen Situation wie 2015 überrascht zu werden.

Die Meldungen, die uns gerade täglich erreichen, beziehen sich im Moment hauptsächlich auf Anlegeversuche von Rettungsschiffen an der italienischen oder maltesischen Küste. Tatsächlich ist aber auch die Balkanroute – in geänderter Form – wieder Thema.

In jüngster Zeit werden Vorwürfe gegen die kroatische Grenzpolizei wegen teilweise gewaltsamer Zurückweisungen erhoben. Kroatien strebt in den Schengen-Raum und muss daher nachweisen, dass es in der Lage ist, die EU-Außengrenze zu sichern. Das wird von Grenzbeamten angesichts der zum Äußersten entschlossenen jungen, männlichen Migranten als herausfordernde Aufgabe beschrieben.

Durchlässige Grenzen

Während die Grenze zwischen Bosnien und Kroatien an der Save durch moderne, von der EU bestens ausgestattete Grenzstationen und von der von Frontex gut ausgebildeten Grenzpolizei ziemlich dicht gemacht werden kann, sind die Grenzen im Westen bei Bihać und Velika Kladuša im muslimisch-bosniakischen Kanton Una-Sana wesentlich durchlässiger. Das sind Informationen, die über Schleppernetzwerke prompt verbreitet werden.

Mein jüngster Lokalaugenschein fand in dieser bosnischen Region statt, die offensichtlich zum Brennpunkt der neuen Balkan-Landroute geworden ist. Versuchten 2015 Migranten und Flüchtlinge – von Griechenland und Bulgarien kommend – über Mazedonien, Serbien, das kroatische Slawonien und Ungarn nach Slowenien und weiter nach Österreich und Deutschland zu kommen, haben sich inzwischen – nach erfolgreicher Schließung dieser Balkanroute – die Wege nach Bosnien und Herzegowina verlagert. Von der Stadt Bihać im nordwestlichen Bosnien hoffen die Migranten über die EU-Grenze in die kroatische Region Karlovac und dann weiter in den Norden – sprich: nach Österreich bzw. Deutschland – zu gelangen. Nicht nur was die Route, sondern auch was die Migranten und Flüchtlinge betrifft, gibt es beträchtliche Unterschiede zu 2015: Waren es vor vier Jahren vor allem Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten Syriens – darunter viele Familien –, sind es heute fast nur noch alleinstehende, junge, männliche Wirtschaftsflüchtlinge im Alter von 18 bis zu 30 Jahren, überwiegend aus Pakistan und Afghanistan.

Wachsende Unsicherheit

Jedenfalls sind fast keine Frauen und Kinder darunter und nur wenige Migranten aus Syrien, dem Iran, Irak oder Nordafrika. In Pakistan sind es Familienclans, die ein Familienmitglied nach Europa schicken, damit es dort seinen Weg macht und andere Familienmitglieder nachziehen.

Während Bosnien und Herzegowina zunächst kaum Migranten verzeichnete, stieg die Zahl ab Anfang 2018 dramatisch an, bis Ende des Jahres waren es rund 25.000. Sie alle landeten letztlich in Bihać, Hauptstadt des Kantons Una-Sana. Mindestens 20.000 davon gingen erfolgreich über die Grenze nach Kroatien und damit in die EU.

2019 kommen täglich etwa 180 bis 220 Migranten in Bihać an, bis zu 8000 halten sich ständig dort auf. Bei einer Stadtbevölkerung von etwa 35.000 bewirkt das riesige soziale und gesellschaftliche Probleme. Alle meine Gesprächspartner erwarteten ein starkes Ansteigen der Migration im Herbst. Das Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung steigt bedrohlich. Die Zahl der Einbrüche, Raubüberfälle etc. steigt rapide an, ebenso die gewalttätiger Auseinandersetzungen unter den Migranten. Erst vor Kurzem gerieten 500 (!) Migranten gewalttätig aneinander, die Polizei war kaum in der Lage, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.

Bihać – völlig alleingelassen

In der ohnehin sehr verarmten Bevölkerung von Bihać steigt die Bereitschaft zu Selbstschutzmaßnahmen. Schon vor Monaten eskalierte die Situation. Die Bürger besetzten den Bahnhof und die Busstationen, um zu verhindern, dass Migranten ankamen. Die Polizei musste die Migranten vor Angriffen der Bevölkerung schützen.

Der Kanton Una-Sana und die Stadt Bihać sind mit dem Problem völlig alleingelassen. Weder die gesamtstaatliche Ebene noch die Föderation kümmert sich darum. Eine gesamtstaatliche Koordination wäre dringend notwendig. Die Hoffnung, dass die nach zehn Monaten vor wenigen Tagen erreichte Einigung über die Bildung einer gesamtstaatlichen Ebene zu einer spürbaren Verbesserung der Situation führen wird, ist nicht sehr groß. Von der EU wurden 24 Mio. Euro zur Verfügung gestellt. Nur ein verschwindender Bruchteil erreichte die betroffene Region für die Polizei und für Gesundheitseinrichtungen. Das Schlepperwesen nimmt dramatisch zu. Bis vor zwei Jahren gab es in Bihać zwei Taxis, heute sind es bis zu 30. Sie bringen 100 bis 140 Migranten täglich nach Bihać. Noch einmal so viele kommen mit der Bahn. Die vor allem aus Pakistan stammenden Schlepper organisieren das sogenannte Game Going in den und rund um die Migranten-Camps.

Der Norden als fixiertes Ziel

Immer wieder verlassen in einer Nacht bis zu 400 Migranten unter der Führung von Schleppern die Camps in Bihać. Ein kleinerer Teil scheitert an der kroatischen Grenze und ist am nächsten Tag wieder zurück. Andere werden an der slowenischen oder italienischen Grenze zurückgewiesen und kommen zurück nach Bihać. Um 2000 Euro werden sechs Personen in zwei Autos nach Mailand gebracht, von dort wollen sie weiter in den Norden. Bis zu zwei Drittel kommen – oft nach mehreren erfolglosen Versuchen – schließlich durch.

Der Unmut der Bevölkerung in Una-Sana ist deshalb so groß, weil die Migranten aus EU-Mitgliedsländern (Griechenland und Bulgarien) kommen und schließlich im Bereich Bihać stranden. Die frühere griechische Regierung von Alexis Tsipras habe viele Migranten stillschweigend weitergewinkt nach Nordmazedonien und Serbien, wo man ebenso Richtung Bosnien und Herzegowina verfährt. Man hofft nun, dass die neue Regierung in Athen eine konsequentere Haltung einnimmt.

In Österreich aber muss uns eines klar sein: Wer Europa im Süden oder Südosten betritt, kommt früher oder später zu uns in den Norden. Das ist die große „Bubble“ in den Köpfen der Migranten, das fixierte Ziel, ohne jegliche Information darüber, was sie in unseren Ländern tatsächlich erwartet.

Fazit: Die Frage der Migration über den Balkan kann letztlich nur an der EU-Außengrenze in Griechenland und in Bulgarien gelöst werden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Univ.-Prof. Dr. Franz Schausberger (geboren 1950 in Steyr) studierte Philosophie, Pädagogik und Geschichte. Seit 2014 Professor für Neuere Geschichte an der Uni Salzburg. Von 1996 bis 2004 Landeshauptmann von Salzburg. Vorsitzender der Arbeitsgruppe Westbalkan des Europäischen Ausschusses der Regionen. Sonderberater der Europäischen Kommission für Erweiterungsländer. Vorsitzender des Instituts der Regionen Europas (IRE).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2019)

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