Letzter Akt im Syrien-Krieg löst Massenflucht in die Türkei aus

Zehntausende Menschen flüchten vor Assads Truppen aus der bedrängten Rebellenhochburg Idlib.
Zehntausende Menschen flüchten vor Assads Truppen aus der bedrängten Rebellenhochburg Idlib. APA/AFP/OMAR HAJ KADOUR
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Zehntausende Menschen flüchten vor Assads Truppen aus der bedrängten Rebellenhochburg Idlib. Die Türkei will Lager in Syrien errichten.

Istanbul. An der Grenze der syrischen Provinz Idlib zur Türkei zeichnet sich ein neues Flüchtlingsdrama ab. Zehntausende Menschen sind auf der Flucht aus südlichen Teilen Idlibs zur türkischen Grenze, wie der syrische Aktivist Asaad Hanna am Freitag der „Presse“ in Istanbul sagte. Die Zahl der Flüchtlinge könnte bald weiter steigen, denn die syrische Armee setzt ihren Vormarsch in Idlib fort. Die Türkei will einen neuen Massenansturm auf ihr Territorium verhindern und plant Auffanglager auf syrischem Boden.

Mit gezielten Angriffen auf Wohngebiete und öffentliche Einrichtungen wie Moscheen im Nordwesten Syriens vertrieben syrische Regierungstruppen mit russischer Unterstützung seit Wochenbeginn nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mehr als 80.000 Menschen. Im Grenzgebiet zur Türkei hätten die Flüchtlinge unter der „Gier“ von Geschäftemachern zu leiden, die Wucherpreise für ein Dach über dem Kopf verlangten.

Insgesamt leben rund drei Millionen Zivilisten in Idlib, der letzten Rebellenhochburg in Syrien nach mehr als acht Jahren Krieg. Die Truppen des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad rücken seit Tagen mit Hilfe russischer Kampfjets gegen die Kämpfer islamistischer Gruppen und Türkei-treuer Milizen von Süden nach Norden vor und treiben die Flüchtlinge vor sich her. Mit den jüngsten Vorstößen festigt Assads Armee ihre Kontrolle über Teilabschnitte der strategisch bedeutenden Fernstraße M5, der wichtigsten Landverbindung zwischen der Wirtschaftsmetropole Aleppo im Norden Syriens und der Hauptstadt Damaskus im Süden. Andere Abschnitte der M5 in Idlib werden derzeit noch von Rebellengruppen beherrscht.

Niederlage für Erdoğan

Am Freitag eroberten Assads Soldaten auch Kafr Zita in Idlib, das acht Jahre von Aufständischen kontrolliert war. Der Ort liegt nur wenige Kilometer westlich des Dorfes Morek, wo die Türkei einen vorgeschobenen Militärposten unterhält. Der Posten ist ebenfalls von Regierungstruppen umstellt: Syrische Soldaten machten in Sichtweite der türkischen Stellung mit ihren Handys Selfies und veröffentlichten sie auf Twitter. Ein türkischer Konvoi für Morek war Anfang der Woche durch einen Luftangriff der Syrer gestoppt worden.

Ihr Bündnis mit Russland in Syrien scheint der Türkei derzeit in Idlib nicht zu helfen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan will mit seinem Amtskollegen Wladimir Putin über die Lage sprechen. Noch aber gibt es keine Anzeichen dafür, dass der Kreml seinem Schützling Assad bei der Offensive in Idlib in den Arm fallen will. Möglicherweise werden die Türken deshalb ihren Posten bei Morek aufgeben müssen – das wäre eine Niederlage für Ankara und könnte den syrischen Vormarsch in Idlib beschleunigen. Assad hat angekündigt, jeden Zentimeter Syriens wieder unter seine Kontrolle zu bringen.

Damit könnte Idlib zur Falle für viele Zivilisten werden, die in den vergangenen Jahren vor Assad in die Provinz geflohen waren. Die Türkei, die bereits 3,6 Millionen Syrer aufgenommen hat, will keine Flüchtlinge mehr ins Land lassen – der Unmut der Türken über die Anwesenheit der Syrer wächst. Innenminister Süleyman Soylu kündigte deshalb im Fernsehsender Habertürk den Bau von Unterkünften in Syrien selbst an. Ankara rechne mit 300.000 bis einer Million Fluchtwilligen aus Idlib, sagte er. Wo die neuen Lager entstehen sollen, sagte Soylu nicht. Nördlich von Idlib kontrolliert die türkische Armee seit Anfang des vergangenen Jahres das Gebiet um die syrische Stadt Afrin. Weiter östlich sind die Gegenden um die Städte al-Bab und Dscharābulus von der türkischen Armee besetzt.

Zudem will die Türkei östlich des Euphrat einmarschieren und eine militärische „Sicherheitszone“ einrichten, um das dortige Autonomiegebiet der syrischen Kurden zu zerschlagen. Auch dort könnten geflohene Syrer angesiedelt werden, argumentiert Ankara.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2019)

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