Weder will Boris Johnson die Queen in den Tower sperren, noch freie und faire Wahlen verbieten. Sein Brexit-Gambit ist dennoch problematisch.
Nun hat er es also doch getan. Nach zigfachen Beteuerungen, die Souveränität des House of Commons sei Britanniens allerhöchstes Gut, hat Boris Johnson am Mittwoch den parlamentarischen Stecker gezogen und die Schließung des Abgeordnetenhauses in die Wege geleitet. Nach den Plänen des Premierministers sollen die Members of Parliament nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr aus der Sommerpause in unfreiwillige Herbstferien bis 14. Oktober geschickt werden.
Die Dauerkrise um Großbritanniens Austritt aus der EU hat mit der gestrigen Ankündigung eine neue Eskalationsstufe erreicht. Während hartgesottene Europagegner über Johnsons Entschlossenheit jubilieren, fühlen sich die Gegner einer Scheidung im Unfrieden um die Gelegenheit betrogen, den Vollzug des Brexit am 31. Oktober mit parlamentarischen Mitteln zu verzögern oder gar zu vereiteln. Schon macht in London das böse Wort „Putsch“ die Runde, schon wird an der Legende gestrickt, Großbritanniens Bruch mit Europa sei mit schmutzigen, undemokratischen Tricks herbeigeführt worden.
Mit Verlaub: Diese und ähnliche Anschuldigungen sind „an inverted pyramid of piffle“, um mit den Worten des britischen Regierungschefs zu sprechen – ein pyramidaler Unsinn hoch zwei. Die regierenden Tories wollen weder die Queen in den Tower sperren noch freie und faire Wahlen verbieten. Sie wollen allerdings das Heft des politischen Handelns in den zwei Monaten vor dem Austrittsdatum auf keinen Fall aus der Hand geben. Und dafür ist ihnen jeder Winkelzug recht.
Winkelzug ist hier das richtige Stichwort, denn der parlamentarische Zwangsurlaub ist die logische Konsequenz eines staatspolitischen Rüstungswettlaufs. Seit dem EU-Referendum vor drei Jahren haben sowohl die Befürworter als auch die Gegner des Brexit das prozedurale Arsenal des Parlaments schrittweise geplündert. Die ungeschriebene Verfassung des Vereinigten Königreichs wird seit 2016 einer Belastungsprobe unterzogen. Und zum jetzigen Zeitpunkt ist alles andere als klar, ob Johnson und seine Berater die Oberhand behalten, oder ob ihre Widersacher noch einen Weg finden, die Pläne in letzter Minute zu vereiteln.
Der Veitstanz, den die älteste Demokratie der Welt aufführt, ist zwar faszinierend anzusehen, doch er verdeckt den Blick auf das Wesentliche: Großbritannien hat einen Tilt. Der Brexit hat die politische Kulturlandschaft umgepflügt, die Bevölkerung gespalten und ihre gewählten Vertreter an den Rand des Wahnsinns geführt. Die Abgeordneten haben den Brexit gutgeheißen, zugleich einen Austritt ohne Deal abgelehnt, aber gleich drei Mal gegen den einzigen Deal gestimmt, der mit ihren eigenen inhaltlichen Prioritäten kompatibel wäre. Jenen Deal, den Johnsons tragische Vorgängerin Theresa May eineinhalb Jahre lang verhandelt hatte – und über den ihr jovialer Nachfolger wieder verhandeln will. Neun Wochen, bevor Großbritannien automatisch aus der EU scheidet.
Die stoische Reaktion der EU auf Johnsons Gambit zeigt, dass sie den Blick auf das Geschehen hinter den Kulissen richtet. Für die Europäer zählt einzig die Qualität des Gegenvorschlags, den der Premier liefern soll. Kann er glaubhaft aufzeigen, wie sich die Grenze zwischen Nordirland und Irland nach dem Austritt offen halten lässt, ist die EU für Nachbesserungen offen. Kann er das nicht – was wahrscheinlicher ist –, wird sie unnachgiebig bleiben und darauf spekulieren, dass ein harter Brexit für die Briten so unkommod sein wird, dass sie nach dem 31. Oktober rasch an den Verhandlungstisch zurückkehren werden.
Fürs Erste haben die Tories Rückenwind. Doch ihr Handeln wird Konsequenzen haben. Sollte eines Tages Jeremy Corbyn in die Downing Street 10 einziehen und Großbritannien zu einem Arbeiter- und Bauernstaat umbauen wollen, werden sie ihm dabei von den Oppositionsbänken aus hilflos zuschauen können. Dass sich der Sozialist an Spielregeln halten wird, ist nun fraglicher denn je. Fair Play war gestern. Wer heute siegen will, muss sich jegliche Rücksicht abtrainieren. Die Konservativen sind da schon relativ weit fortgeschritten. Andere werden ihnen folgen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2019)