Sober

Lebe lieber alkoholfrei

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Partys ohne Alkohol, Blogger, die das nüchterne Leben preisen, und alkoholfreie Pubs. Unter dem Schlagwort Sober wird dem alkoholfreien Lifestyle gehuldigt.

Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis der Alkohol an der Reihe ist. Denn nach Zucker, Weizen, Laktose, Fleisch oder ganz generell tierischen Produkten gibt es nicht mehr viel, was man weglassen kann, um gesund, bewusst und vor allem achtsam zu leben. Zugegeben, bei uns – in einem Land, in dem der Wein zum Kulturgut gehört und auch das Bier keinen schlechten Ruf hat – ist das nüchterne Leben noch nicht ganz angekommen. Aber es wird.

Winzer sprechen seit Jahren davon, dass vorwiegend leichtere Weine nachgefragt werden, schwere Alkoholbomben werden zur Nische. Selbst in Supermarktregalen ist das Angebot an alkoholfreien Getränken abseits von süßen Säften und Limonaden beachtlich. In der Spitzengastronomie ist eine alkoholfreie Speisenbegleitung selbstverständlich – und zwar nicht nur für Schwangere und Autofahrer. Und unter vielen Jugendlichen dürfte das Komasaufen aus der Mode gekommen sein (dafür kiffen sie lieber, aber das ist eine andere Geschichte). Ganz generell ist eine gesündere Lebensweise nicht mehr langweilig, sondern schick. Man könnte diese Entwicklung auch mit Yoga statt Rauchen zusammenfassen.

Feiern ohne Alkohol. In den USA ist man ein Stück weiter und hat mit „sober“ (also nüchtern) ein Schlagwort für einen neuen Trend – oder vielmehr Lifestyle – gefunden. In New York hat es seinen Anfang genommen. Dort gibt es bereits mehrere alkoholfreie Lokale, Clubs und auch Veranstaltungsreihen, bei denen es ganz normal ist, ohne Alkohol zu feiern. Ähnlich ist es in Skandinavien und Großbritannien. In Dublin hat mit „The Virgin Mary“ vor wenigen Monaten ein erstes alkoholfreies Pub eröffnet. Mittlerweile gelangt der Trend auch in den deutschsprachigen Raum. In Berlin gibt es eigene Partys, bei denen kein Alkohol ausgeschenkt wird. Und was in Berlin passiert, passiert bekanntlich verspätet auch in Wien. Auch viral ist der Sober-Trend angekommen. Instagram-Persönlichkeiten wie die in London lebende „Bewusstseinstrainerin“ Africa Brooke feiern unter Hashtags wie #soberissexy oder #boozefree das nüchterne Leben. Die in New York lebende britische Journalistin Ruby Warrington prägte mit ihrem im Dezember erschienenen Buch sogar einen Begriff für diese Bewegung: „Sober Curious“.

Birgit Langer trinkt seit fünf Jahren keinen Alkohol. Anfangs hatte sie dafür viel Erklärungsbedarf.
Birgit Langer trinkt seit fünf Jahren keinen Alkohol. Anfangs hatte sie dafür viel Erklärungsbedarf.(c) Valerie Voithofer

Blogs von Menschen, die darüber berichten, wie es ist, plötzlich nicht mehr zu trinken, werden nicht mehr peinlich berührt als Geständnisse von anonymen Alkoholikern gesehen, sondern begierig als Lifestyle-Lektüre gelesen – ähnlich wie die Erfahrungen mit veganer, Paleo oder einer anderen Ernährungsform. Manche haben daraus ein Geschäftsfeld entwickelt und verkaufen – ähnlich wie bei einem Raucherentwöhnungsprogramm – Programme, die mentale Unterstützung und digitale Belohnung beim Umstieg auf alkoholfreie Getränke bieten. Und selbst Datingplattformen gibt es, analog wie digital, die sich an nüchterne Menschen richten.

Genutzt wird all das von vorwiegend jüngeren Menschen. Der Großteil davon hat bereits – meist mehr als weniger – Erfahrung mit Alkohol. Denn für jemanden, der ohnehin nie Alkohol getrunken hat, ist es wohl wenig greifbar, über Abstinenz zu lesen. Die Grenzen zwischen Alkoholabhängigkeit, einem zu viel an Party oder dem Versuch, gesünder zu leben, sind oft fließend. Manche hören komplett mit dem Alkohol auf, andere gönnen sich eine Pause auf Zeit (besonders beliebt ist der „sober january“), andere wiederum versuchen einfach hin und wieder – etwa unter der Woche – auf Alkohol zu verzichten. Gemeinsam ist ihnen, dass der Verzicht auf Alkohol positiv besetzt wird und man nicht mehr als Spaßbremse oder Gesundheitsapostel abgestempelt wird – oder werden will.

Nüchternheit als Spiegel. Wobei sich das Umfeld damit meist noch schwer tut. Die Wienerin Birgit Langer etwa hat vor fünf Jahren damit aufgehört, Alkohol zu trinken. Irgendwann war es einfach zu viel, sie war am besten Weg von zu viel Party in eine Alkoholabhängigkeit. Sie selbst hat ihren Entschluss nie bereut. „Ich hab mich eher gefragt, warum ich das nicht schon viel früher gemacht habe“, sagt die heute 42-Jährige. Für ihr Umfeld war das hingegen schwieriger zu akzeptieren, auch weil sie sich anfangs selbst unter einen Rechtfertigungsdruck gesetzt hat. „Ich habe dann aber gemerkt, je selbstbewusster man sagt, dass man nichts trinkt, desto eher wird es akzeptiert.“ Der engere Kreis aus Freunden und Familie ist geblieben, „Weggeh-Kumpanen“ hat sie verloren.

Ihr Leben hat sich stark verändert, sie geht weniger aus. „Ich werde früher müde und vor allem fühle ich mich in dieser alkoholgeschwängerten Atmosphäre nicht mehr wohl.“ Stattdessen macht sie weiterhin viel Sport (sie ist Fitnesstrainerin), geht ins Kino, Spazieren oder in Restaurants. „Nichts aufregendes, aber genau das mag ich.“ Das einzige, was sie vermisst, ist das Tanzen und die Zugehörigkeit, die es auf Partys unter Menschen gibt, die trinken. „Natürlich kann ich fortgehen, aber ich spüre den Unterschied zu früher. Ich halte der Gesellschaft durch meine Nüchternheit einen Spiegel vor und das mögen sie nicht so gerne, vor allem, wenn sie Party machen wollen.“

Ein Jahr kein Bier. Ähnlich ging es auch dem Schotten Ruari Fairbairns, der aus seiner Abstinenz eine Geschäftsidee entwickelte. Zuvor war der Alkohol fixer Bestandteil in seinem Leben. Als Ölmakler in London gehörte es für den Schotten schlicht dazu, mit seinen Geschäftspartnern ins Pub zu gehen. „Ich war gefangen in der Idee, dass ich meine Kunden unterhalten muss“, sagt der heute 38-Jährige. Doch irgendwann wurde es seiner Frau zu viel. Nach einem weiteren feucht-fröhlichen Lunch-Gelage, das sich bis in den Abend zog, stand die Beziehung vor dem Aus. Die Krise wurde zum Wendepunkt in seinem Leben.

Von einem Tag auf den anderen hörte er auf, Alkohol zu trinken. „Ich fühlte mich allein, von der Gesellschaft ausgeschlossen und dachte, ich könne kein Topmakler mehr sein – aber es stellte sich heraus: Das alles ist Bullshit.“ Statt Elend erlebte Fairbairns, dass alles besser wurde. „Meine Magenprobleme lösten sich in Nichts auf, die trockene Haut verschwand, ich verlor Tonnen von Gewicht und steigerte mein Geschäft um 50 Prozent.“ Statt ins Pub zu gehen, machte er mit seinen Kunden nun Fahrradtouren oder nahm sie mit zum Spinning. Und er begann die weitverbreitete Idee zu hinterfragen, dass man erst Alkoholiker sein und am Tiefpunkt ankommen muss, um keinen Alkohol mehr zu trinken.

„Die meisten Leute wissen gar nicht, welchen Effekt der Alkoholkonsum auf sie hat“, sagt Fairbairns. Er wollte andere Menschen dazu ermutigen, ihren Umgang mit Alkohol zu verändern. Mit seinem Freund und Arbeitskollegen Andy Ramage gründete er 2016 die Online-Plattform One Year No Beer (Ein Jahr kein Bier). Wer sich dort für eine „Challenge“ anmeldet und entweder 28, 90 oder gleich 365 Tage keinen Alkohol trinkt,  bekommt tägliche Motivationsmails, Coaching-Videos und Zugang zu einer Facebook-Gruppe, in der sich die Teilnehmer gegenseitig unterstützen. Inzwischen hat die Plattform nach eigenen Angaben mehr als 50.000 Mitglieder in 90 Ländern.

„Mit der Challenge geben wir den Leuten eine gute Ausrede, um Nein sagen zu können – denn der Gruppenzwang, zu trinken, ist immer noch lächerlich groß.“ Statt entbehrungsreichem Verzicht verkaufen Fairbairns und Ramage die gegenteilige Idee: Es soll Spaß machen, nichts zu trinken. „Es macht dich fitter, schneller, gesünder, klarer und produktiver bei der Arbeit. Man verliert Gewicht, schläft besser, ist ruhiger und entspannter.“

„Es geht darum, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen“, sagt auch Laura Willoughby, die ebenfalls beruflich mit dem alkoholfreien Trend zu tun hat. Die 45-jährige Londonerin engagiert sich mit ihrem „Club Soda“ für einen achtsamen Umgang mit Alkohol und ist Mitbegründerin vom „Mindful Drinking Festival“. Mehr als 60 Hersteller alkoholfreier Getränke präsentieren dort zwei Mal im Jahr ihre neusten Drinks – von Cocktails über alkoholfreies Bier, Wein und Spirituosen bis hin zu Kombucha und anderen Gesundheitsgetränken.

Es gebe sehr viele Menschen, die sich nicht als Alkoholiker definierten, aber trotzdem ihre Trinkgewohnheiten ändern wollten, ist Willoughby überzeugt. Immer wieder komme dann die Frage: Was kann ich stattdessen trinken? Das Festival richte sich an Konsumenten, die „einen neuen Drink finden wollen.“ Das Interesse ist groß: Jedes Mal kommen rund 10.000 Besucher.

Länder ohne Weinkultur. Dass ausgerechnet die Engländer, die für ihre Trinkfreudigkeit berühmt sind, plötzlich eine Affinität für die Nüchternheit haben, mag verwundern. Die deutsche Gastro-Beraterin Nicole Klauß, die ein Buch über alkoholfreie Getränke geschrieben hat („Die neue Trinkkultur“), erklärt sich das mit der fehlenden Weinkultur. „Die Haltung diesbezüglich ist in Ländern, die keine Wein-Historie haben, deutlich entspannter“, sagt Klauß. So sei das Thema zwar in Skandinavien und Großbritannien angekommen, in Frankreich, Italien oder Spanien aber nicht. Sie selbst trinkt Alkohol nur in minimalen Mengen, hat aber eine Sommelier-Ausbildung.

Sober-Partys hat sie bereits in New York, London und Berlin besucht. Während die Partys in Berlin etwas „komisch bemühtes“ und „etwas missionarisches“ hätten, werde in New York und London damit selbstverständlicher umgegangen. „Da fällt es gar nicht auf, dass es keinen Alkohol gibt.“ Sie würde sich wünschen, dass es auch im deutschsprachigen Raum normaler wird, nichts zu trinken. „Es geht nicht darum, dass Alkohol schlecht ist, aber auch mal nichts zu trinken, muss in Ordnung sein.“

Dass es in Berlin auch alkoholfreie Partys gibt, ist übrigens einer türkischen Feier zu verdanken. Dem Berliner DJ Gideon Bellin, der Initiator der „Sober Sensation“-Partys, kam die Idee für die alkoholfreie Partyreihe schon vor elf Jahren. Er wurde damals als DJ für eine türkische Geburtstagsfeier engagiert, auf der kein Alkohol ausgeschenkt wurde. Anfangs sei er skeptisch gewesen. „Aber es war eine viel bessere Party als die sonstigen, bei denen ich damals aufgelegt habe. Bessere Stimmung, ging schneller los, es wurde mehr getanzt“, sagt Bellin. „Das hat mich inspiriert.“ Seit zweieinhalb Jahren organisiert er in deutschen Städten die Sober-Sensation-Partys. „Die Idee ist, dass die Atmosphäre, die Shows, die Musik so besonders sind, dass die Gäste gar nicht merken, dass etwas fehlt.“ Statt Bier und Cocktails gibt es Mocktails, frische Säfte und Ingwer-Shots. Dazu Glitzerdekorationen, Liveshows und aufwendige Lichteffekte.

Die Partys finden unter der Woche statt, meist kommen zwischen 200 und 300 Leute. Am Wochenende, räumt Bellin ein, habe das bisher nicht funktioniert – noch nicht. Aber das Konzept kommt an: neben deutschen Städten fanden „Sober Sensations“ schon in Ljubljana, Zürich und Stockholm statt. Im Oktober wird es eine „Sober Sensation“ in Ugandas Hauptstadt Kampala geben. Paris, New York, London und Amsterdam stehen ebenso auf seiner Liste. Auch Wien ist angedacht – ebenso wie der Plan, einen alkoholfreien Club in Berlin zu eröffnen. Er wolle niemanden bekehren, und er selbst trinke auch manchmal Alkohol, betont der Partyveranstalter. Es gehe schlicht darum, auch ohne Alkohol Spaß zu haben.

Ohne Alkohol

Unter dem Schlagwort Sober (nüchtern) wird im Internet das alkoholfreie Leben debattiert, z. B.:

www.sobrieteaparty.com
www.thehipsobrietyproject.com
www.oneyearnobeer.com
www.neuetrinkkultur.de

Lokale

The Virgin Mary, Dublin
Getaway Bar, New York
Listen Bar, New York
Redemption Bar, London

Partys

Sober Sensation, Berlin: www.sobersensation.com Detox Rebels, Berlin: detoxrebels.com

Festivalmindfuldrinkingfestival.com

Bücher

Ruby Warrington: „Sober Curious“
Susanne Kaloff: „Nüchtern betrachtet war's betrunken nicht so berauschend“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2019)

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