Gastkommentar

Der Kampf um die britische Seele hat erst begonnen

(c) Peter Kufner
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Der EU–Exit wird Großbritannien zwingen, sich mit weitaus schwierigeren Entscheidungen zu befassen. Noch erkennt das kaum wer.

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Die Leave-Kampagne der Brexit-Befürworter wurde mit dem Argument beworben, „die Kontrolle zurückerlangen“ zu wollen, indem die „Souveränität“ des britischen Parlamentes wiederhergestellt werde. Es ist daher zutiefst ironisch, dass einer der ersten Schritte der EU-Austrittsbefürworter nach ihrer Machtübernahme darin besteht, das Parlament zu beurlauben und Debatten über den bevorstehenden Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union am 31. Oktober zu verhindern.

Der britische Premierminister Boris Johnson ignoriert den Willen des Parlaments, in dem die Mehrheit der Abgeordneten ein No-Deal-Szenario ablehnt, und verfolgt nun die Taktik, die Stimmen der Anhänger der europafeindlichen Brexit-Partei für sich zu gewinnen, damit er den Brexit um jeden Preis durchsetzen kann. Zu diesem Zweck nimmt er einen umfassenden politischen Krieg in Kauf, der die britische parlamentarische Demokratie langfristig zu untergraben droht.

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Niemand weiß, wie es ausgeht

Die sich verschärfende politische Krise Großbritanniens ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass das Parlament das von Johnsons Vorgängerin, Theresa May, und der EU ausgehandelte Austrittsabkommen nicht ratifiziert hat. Das Fehlen einer kodifizierten Verfassung in Großbritannien in Verbindung mit einem Grad an politischer Polarisierung, der es heute mit dem der USA aufnehmen kann, erschwert eine Einschätzung, wie sich die aktuelle Situation weiter entwickeln wird. Alle Prognosen finden im luftleeren Raum statt, denn niemand kann wissen, wie es ausgehen wird. Großbritannien sieht sich einem permanenten Zustand der Unsicherheit gegenüber, und das allein ist für jedes Land destabilisierend.

Während sich der politische Nebel verdichtet und die Zeit für Verhandlungen abläuft, ist es leicht, das Finale aus den Augen zu verlieren. Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016, sowohl unter May als auch unter Johnson, gibt es im Vereinigten Königreich keine ernsthafte Debatte darüber, was diese Entscheidung mit sich bringt. Die führenden Politiker des Landes haben einen unerklärlichen Widerwillen bewiesen, sich mit den weitreichenden geopolitischen Entscheidungen auseinanderzusetzen, die der Brexit erforderlich machen wird.

Aber machen wir uns nichts vor: Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU wird Großbritannien zwingen, sich mit weitaus schwierigeren Entscheidungen zu befassen, als es irgendjemand bedacht zu haben scheint. Will das britische Volk die europäischen Normen für Lebensmittel, Medizin, Tierschutz und unzählige andere regulatorische Themen zugunsten eines amerikanischen Regelungsmodells aufgeben? Niemand weiß es, und es gab auch keine wirkliche Debatte über die Kosten und den Nutzen, die damit verbunden sind.

Trump, Mann der Strafzölle

US-Präsident Donald Trump hat sich selbst den Spitznamen „Tariff Man“ verpasst („Mann der Strafzölle“) und Einfuhrzölle auf Waren von US-Verbündeten und -Gegnern gleichermaßen erhoben. Sind die Briten, die seit Langem für den Freihandel eintreten, bereit, mit dem weltweit führenden Protektionisten ins Bett zu gehen? Indem Johnsons Regierung Trump umwirbt und ein schnelles Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten anstrebt, geht sie davon aus, dass das britische Volk eine drastische Neuausrichtung weg von der regulatorischen Zuständigkeit der EU unterstützt. Innerhalb der EU hat Großbritannien einen prominenten Platz am Tisch und ein Mitspracherecht bei den Vorschriften, die entwickelt werden. Durch eine stärkere Ausrichtung auf die USA wird das Land das schlucken müssen, was Trump herunterreicht.

Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass dies nicht das ist, was die britische Öffentlichkeit will. Auf die Frage, wen sie lieber als engen Handelspartner haben würden, entscheiden sich 50 Prozent für die EU und nur 21 Prozent für die USA. Bei den jungen Briten sind die Ergebnisse noch deutlicher, denn 58 Prozent entscheiden sich für die EU und nur 14 Prozent für die USA.

Trump behauptet, Großbritannien und „Britain Trump“ (sein sprachlich falscher Name für Johnson) zu lieben, aber das könnte sich leicht ändern. Schließlich ändert sich seine Meinung über ausländische Staats- und Regierungschefs mit dem Wind. Kommt es zum Austritt ohne Vertrag, wird das Vereinigte Königreich plötzlich vom Wohlwollen des seltsamen amerikanischen Präsidenten abhängig sein und vor existenziellen Herausforderungen für die Union aus Schottland, Nordirland, Wales und England stehen. Aber ein No-Deal-Szenario ist nicht unabwendbar. Das von May ausgehandelte Abkommen sieht eine enge zukünftige Beziehung zwischen Großbritannien und der EU vor. Diese Regelung, für die Johnson selbst gestimmt hat, steht noch zur Ratifizierung aus.

Auch wenn es noch Möglichkeiten gibt, dieses Abkommen zu verbessern, um es bindender zu gestalten, so bietet es doch bereits eine solide Grundlage für den Abschluss eines engen Assoziierungsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU in der Zukunft. Insbesondere sieht die Austrittsvereinbarung die Einsetzung eines gemeinsamen Ausschusses aus Vertretern des Vereinigten Königreichs und der EU vor, der dann als Instrument für die künftige Zusammenarbeit dienen soll. In dem Wust aus Unwahrheiten und Desinformation, der die Brexit-Debatte geprägt hat, wurden die Möglichkeiten, die sich aus diesem Punkt des Austrittsabkommens ergeben, kaum diskutiert.

Politische Debatte lahmlegen

Leider ist das nicht besonders überraschend. Das Brexit-Projekt war von Anfang an inkohärent. Vor allem hat das Vereinigte Königreich die „Kontrolle“ nie verloren, und in einer Welt, die von der Rivalität zwischen den Supermächten China und USA beherrscht wird, ist die einzige Möglichkeit für mittelgroße europäische Mächte, ihre Souveränität zu schützen, die Bildung einer geschlossenen Front.

Johnsons Unehrlichkeit über die Optionen des Landes war schlimm genug; aber jetzt versucht er, die demokratische Debatte lahmzulegen, um ein politisches Ziel zu erreichen. Es ist nicht zu spät für britische Politiker, auch nicht für Johnson selbst, mit den Spielchen aufzuhören und wirklich zu erklären, welche Kompromisse dem Land bevorstehen.

Nur durch eine aufrichtige, verantwortungsvolle Führung kann Großbritannien endlich eine echte Debatte über seinen Platz in der Welt führen. Unabhängig vom Ausgang der Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ist der Brexit nur der Anfang eines viel längeren Prozesses. Der Kampf um die britische Seele hat gerade erst begonnen. Aber ob er fair ausgetragen wird, bleibt fraglich.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Guy Verhofstadt (* 1953 in Dendermonde) studierte Rechtswissenschaften an der Universität Gent. Er gehört der Partei der Flämischen Liberalen und Demokraten an und war von 1999 bis 2008 belgischer Ministerpräsident. Er war Präsident der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (Alde) im EU-Parlament und Chefunterhändler für die Brexit-Verhandlungen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2019)

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