Premierminister Johnson spekuliert darauf, Oppositionschef Corbyn hat sie sich lang gewünscht, setzt aber jetzt taktisch auf Zeit: Was bedeuten Neuwahlen für Großbritannien?
London. Vier Abstimmungen, vier Niederlagen, Fehlerquote 100 Prozent: Der neue britische Premierminister, Boris Johnson, hat einen formidablen Fehlstart hingelegt. Nach nur 43 Tagen im Amt hat er seine Parlamentsmehrheit verschleudert, die Kontrolle über den Brexit verloren, und gestern, Donnerstag, kam der nächste Rückschlag: Sein eigener Bruder Jo Johnson legte wegen „unauflöslicher Spannungen“ zwischen „Familienloyalität und Staatsinteresse“ alle politischen Ämter nieder. „Er hat ihn gekillt“, kommentierte ein Konservativer. Mit Neuwahlen will der Premier einen Befreiungsschlag wagen. Noch am Donnerstag wollte er sich erneut an die Nation wenden. Aber die Opposition lässt ihn zappeln. Vorerst. Denn für alle Parteien birgt ein Urnengang gewaltige Risken.
Boris Johnson, Tories
52 Prozent der Briten stimmten 2016 für den Brexit, und diese will der Tory-Chef für sich gewinnen. Alle, dann hat er im Parlament eine Mehrheit. Dafür muss er die Brexit Party von Nigel Farage zerstören. Alles, was er seit seiner Machtübernahme getan hat, war darauf ausgerichtet, die Tories in die wahre Brexit-Partei umzuformen: „Sie haben eine offene Gemeinde in eine enge Sekte verwandelt“, rechnete Churchill-Enkel Nicholas Soames nach seinem Parteiausschluss mit Johnson ab. Mit seinem brutalen Kurs verstört er zwar gemäßigte Anhänger. Er hofft aber, sie mit der Zuspitzung „Ich oder Labour-Chaos unter Jeremy Corbyn“ in letzter Sekunde bei der Stange halten zu können. Zugleich droht für die Konservativen in Schottland ein Debakel: Von 13 Mandaten sind die Tories in Umfragen auf drei gesunken; Johnson hat sich in seinem Brexit-Machtspiel als stärkster Werbefaktor für die schottische Unabhängigkeit erwiesen.