Chinesische Arbeiter in einer Anlage zur Trocknung von Gingkoblättern für die Teeproduktion: Nicht jede Form der Arbeit soll gerettet werden, sondern vielmehr das, was an Arbeit wertvoll ist und für sozialen Zusammenhalt sorgen kann.
Essay

Herzlich Willkommen in unserer Opfergesellschaft

Digitalisierung vernichte Jobs, große Unternehmen gelten als Gefahr für die Demokratie. Warum fühlen sich immer mehr Menschen als Opfer der Gesellschaft?

Jetzt ist also auch die ÖVP zum Opfer geworden. Opfer einer Cyberattacke, heißt es – und wieder ist der Wahlkampf um einen Skandal reicher. Ganz offensiv wurde die Geschichte von einer gezielten, über Wochen, wenn nicht Monate dauernden Spionageaktion der Öffentlichkeit präsentiert. Unabhängig von den aktuellen Hintergründen, ist allein der Umstand, dass eine Partei, die den politischen Führungsanspruch stellt, freiwillig in die Opferrolle schlüpft, durchaus bemerkenswert. Waren früher Attribute wie Stärke und Überlegenheit gefragt, so gilt diese Devise längst nicht mehr. Richard Nixons Niederlage im Präsidentschaftswahlkampf gegen John F. Kennedy begann im Oktober 1960 bekanntlich mit einem Schweißausbruch während des ersten TV-Duells der Fernsehgeschichte.

Dass sich die FPÖ seit der Ibiza-Affäre ebenfalls als Opfer präsentiert, animierte die Satire-Zeitung „Tagespresse“ zum Titel: „Statt Freibier: FPÖ serviert Fans heuer hausgemachte Opferrolle.“ Willkommen in der Opfergesellschaft. Sie macht mittlerweile vor nichts mehr halt. In einem Land, das noch nie so viele Jahrzehnte des Friedens und des wachsenden Wohlstands erlebt hat, wähnen sich immer mehr Menschen abgehängt, ungerecht behandelt, ausgegrenzt. Der Grund für dieses Phänomen der individuellen Ohnmacht liegt für den deutschen Satiriker und Publizisten Anselm Neft auf der Hand. „Ja, wir sind Opfer, und zwar unserer Selbstüberschätzung“, schrieb er in der „Zeit“ – lang vor Ibiza.

Die erste Generation, der die wachsende Diskrepanz zwischen den persönlichen Ansprüchen und der Wirklichkeit so richtig vor Augen geführt wird, sind die sogenannten Millennials. Sie wuchsen mit Internet und Handy auf. Holzspielzeug, Waldorfschule, nie ein Nein gehört. Irgendwann erreichten die meisten von ihnen allerdings einen Punkt, wo es nicht mehr weiterging. Dass sie womöglich an ihren utopisch hohen Ansprüchen scheiterten, kam vielen nicht in den Sinn. Vielmehr waren sie Opfer der widrigen Umstände, der Finanz- und Wirtschaftskrise etwa.

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Nicht Unternehmensgründern, sondern Whistleblowern gebührt Heldenstatus, sagt die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin Lisa Herzog. Den Personenkult um Unternehmensgründer wie Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos hält sie für völlig „fehlgeleitet“.

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