63. Filmfest Cannes: Surrealer Sieg für Thailand

(c) EPA (CANNES FILM FESTIVAL)
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Eine Goldene Palme für Thai-Regisseur Apichatpong Weerasethakul: Gerechte Preise versöhnen nach artistischen und politischen Querelen an der Croisette.

"Surreal!" Mit diesem Wort nahm der kleinwüchsige Thailänder Apichatpong Weerasethakul am Sonntagabend die Goldene Palme in Cannes entgegen: Dass sein traumhafter Dschungelfilm Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives den Hauptpreis des bedeutendsten Filmfestivals davontragen würde, wurde doch nicht erwartet, wiewohl viele Filmkritiker Weerasethakuls Kunststück als überragendes Kinoereignis in einem eher enttäuschenden Wettbewerb eingestuft hatten.

Es war ein artistischer Triumph, und auch ein politischer Preis: Nachdem er lange auf einen Sonderpass hatte warten müssen, kam der thailändische Regisseur vergangenen Donnerstag mit dem drittletzten Flugzeug vor der Flughafensperre aus dem brennenden Bangkok doch noch an die Côte d'Azur. Während vergangene Woche die politischen Unruhen in Thailand eskalierten, fand der daheim schon mehrfach zensierte und als unbequem geltende Filmemacher auf seiner Pressekonferenz klare Worte, wo er im Film eher hintergründige politische Untertöne anschlägt: Es sei ein Klassenkampf, der seine Nation zerreiße. Und: „Thailand ist ein gewalttätiges Land. Es wird von einer Gruppe von Mafias kontrolliert.“ Ironischerweise ist nun gerade dem Regimekritiker Weerasethakul ein symbolischer Sieg zu verdanken: Erstmals gewann ein Thai-Film ein großes A-Festival – Balsam für die Seelen daheim. Allerdings verlängerte bereits Montag, wenige Stunden nach dem Cannes-Erfolg, die thailändische Regierung die nationale Ausgangssperre um eine Woche.

Protestaufmärsche und Hungerstreik

Dennoch ein starkes Zeichen bei einem Festival, an dessen Rändern politische Querelen eine große Rolle spielten: In Frankreich führten konservative Kreise bereits im Vorfeld eine Kampagne gegen Rachid Boucharebs Wettbewerbsbeitrag Hors la loi, weil darin ein französisches Massaker an Algeriern thematisiert wurde. Das erwies sich nur als Hintergrund für ein konventionelles Gangsterstück, aber am Freitagmorgen vor Festivalende gab es in künstlich aufgeheizter Stimmung verschärfte Sicherheitskontrollen im Festivalpalais und Protestaufmärsche von echauffierten Uniformierten.

Indessen überschattete der Fall des iranischen Regisseurs Jafir Panahi bis zuletzt die Ereignisse: Der renommierte unabhängige Filmemacher (Der Kreis) ist seit Monaten im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis inhaftiert, weil er einen regimekritischen Film plante. Cannes lud ihn in die Wettbewerbsjury ein, doch er durfte nicht ausreisen. Demonstrativ blieb bei den Vorführungen ein Sitz im Saal frei, um auf die Abwesenheit des politischen Gefangenen hinzuweisen: Solidaritätserklärungen folgten, Panahi nutzte das Rampenlicht und trat mit Festivalbeginn in Hungerstreik, um eine Sicherheitserklärung für seine Familie zu erreichen.

Zweitbewerb überschattete Konkurrenz

Nachdem das diesjährige Cannes-Postergirl Juliette Binoche bei der Siegerehrung ihren Darstellerpreis entgegengenommen hatte (für ihre Rolle in Copie conforme, einer toskanischen Meta-Kitsch-Versuchsanordnung von Panahis Landsmann Abbas Kiarostami), erinnerte sie an den inhaftierten Filmemacher und hielt schließlich ein Schild mit seinem Namen hoch. Zeitgleich kolportierten iranische Oppositionskreise, dass Panahis Entlassung auf Kaution bevorstünde.

So inszenierte sich Cannes ungewohnt als Politfestival, dieweil erst die Preise mit einem künstlerisch umstrittenen Jahrgang versöhnten: Lange wurde gemunkelt, dass der Zweitwettbewerb „Un Certain Regard“ die bessere Konkurrenz sei. Dort liefen oft klingende(re) Namen: etwa der Franzose Jean-Luc Godard (mit der allerdings enttäuschenden Collage Film socialisme), der 101-jährige Portugiese Manoel de Oliveira (mit der betörenden Geistergeschichte The Strange Case of Angelica) und der rumänischen Hoffnungsträger Cristi Puiu (mit der anspruchsvollen Mörderstudie Aurora).

Letztlich bekamen aber die besten Wettbewerbsfilme – außer Bertrand Taverniers großem Historienepos La princesse de Montpensier – die Hauptpreise: Den Grand Prix, die inoffizielle Silbermedaille, erhielt der Franzose Xavier Beauvois für sein bewegendes spirituelles Drama Des hommes et des dieux über den Tod der Mönche von Tibherine, Mathieu Amalric bekam den Regiepreis für seine sympathische Tragikomödie Tournée, der Koreaner Lee Chang-dong den Drehbuchpreis für den intelligenten Kunstfilm Poetry.Nur die Schauspielerpreise wirkten wie Zugeständnisse: Neben Binoche teilten sich Spanier Javier Bardem (für das schamlose Melodram Biutiful) und der Italiener Elio Germano (für das belanglose Melodram La nostra vita) die Auszeichnung für die beste männliche Interpretation.

In Erinnerung bleiben wird aber vor allem die rare Juryentscheidung für ein künstlerisch tatsächlich avanciertes Werk: Weerasethakul inszeniert in Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives eine trancegleiche, dabei oft komische und in ihrer Sinnlichkeit überwältigende Fantasie rund um den an Nierenversagen sterbenden Titelhelden.

Lob für Tim Burtons Frisur

Der kann sich an seine früheren Leben erinnern: als Ochse oder als mythische Prinzessin (die einmal Sex mit einem Wels hat). Es erscheinen unvermittelt Geister, die ganz selbstverständlich mit den Menschen leben: Mit dem magischen Aufbrechen der Grenze von Traum und Wirklichkeit lädt Weerasethakul auf einen echten Mind Trip. Seine hinreißenden Affengeister mit Laseraugen provozierten dabei manchen Kommentar vom „besseren Planeten der Affen.“ Jurypräsident Tim Burton nahm es gelassen und fällte mit seiner Crew die richtige Entscheidung. Der Sieger lohnte es mit Dankesworten für die Jury: „Ich möchte euch alle küssen, besonders Tim Burton. Deine Frisur gefällt mir besonders.“ Damit brachte der kleine Thai-Filmkünstler den großen Hollywoodregisseur zum Erröten. Und erinnerte daran, was Cannes leisten kann.

Apichatpong Weerasethakul im Sucher, S.23

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2010)

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