Ein Agnostiker grübelt in der Kathedrale von Saint-Omer

Eines der Privilegien meines Daseins als Brüssel-Korrespondent ist es, in einer der interessantesten Regionen Europas zu leben.

Streng genommen gibt es das, was nach dem Vertrag von Verdun 843 zwischen dem Ost- und Westfrankenreich Lothar I. überantwortet wurde, das Mittelreich, heute nicht mehr. Jahrhundertelang war die nordwestliche Ecke davon, die alte Grafschaft Flandern vor allem, mit Städten wie Lille, Calais, Boulogne oder Lens, fast ununterbrochen ein Schlachtfeld. Ein Wunder, dass hier noch etwas steht, für den Fremden zu besichtigen – und welche Pracht, diese Kathedralen, Burgen, Beginenhöfe, Marktplätze!

Eine dieser Städte, die mehr Besucher verdienen würden, ist Saint-Omer. Dorthin, genauer: in die örtliche Kathedrale, verschlug es mich im August. Als Agnostiker besuch ich solche Kirchenschiffe in seltsamer Gemütsverfassung: nicht zum Beten, aber ergriffen von der Schaffenskraft, die solch gotische Pracht entstehen ließ. Doch dieses Mal kam noch etwas anderes dazu. Hinter dem Chor waren Platten von Gläubigen angebracht, die der Heiligen Jungfrau hier ihren Dank für die Erfüllung ihrer Gebete ausrichteten. „Danke, oh Muttergottes der Wunder! Ihr habt mich geheilt“, ließ ein oder eine „J.B.“ im Mai 1889 in Marmor meißeln. Gegenüber, am Sarkophag des Heiligen Erkembode, wiederum legen Gläubige Schuhe nieder, um dafür zu bitten, dass ihre Fußleiden geheilt werden. Da sah ich unter anderem die Pantoffel einer alten Frau, die sich neulich das Bein gebrochen hatte. Ihr Mann bat den Heiligen auf einer Karte darum, sie zu heilen, denn sie bewege sich in ihrer Bettlägrigkeit nun gar nicht mehr.

Man muss sehr kaltherzig sein, um diese Formen alter Volksfrömmigkeit zu verspotten. Ich finde, gerade in Zeiten, wo wir uns mit hasserfülltem Gotteskriegertum herumschlagen müssen, wäre Großzügigkeit und Empathie für die tröstlichen Formen des Glaubens gut. Denn was Hoffnung in schwerer Not gibt, macht die Welt für alle ein bisschen lebenswerter.

E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2019)

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