Das gefährliche Kalkül des Boris Johnson

„Bedeutende Differenzen bleiben bestehen“: Großbritanniens Premierminister Johnson am Montag bei seinem irischen Amtskollegen Leo   Varadkar. Dieser betonte, er sei für „realistische neue Vorschläge“ in Sachen Brexit-Abkommen offen, habe bisher aber keine erhalten.
„Bedeutende Differenzen bleiben bestehen“: Großbritanniens Premierminister Johnson am Montag bei seinem irischen Amtskollegen Leo Varadkar. Dieser betonte, er sei für „realistische neue Vorschläge“ in Sachen Brexit-Abkommen offen, habe bisher aber keine erhalten. (c) APA/AFP/LORRAINE O´SULLIVAN (LORRAINE O´SULLIVAN)
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Das Parlament lässt Johnsons Neuwahlpläne platzen und forderte, bevor es in die Zwangspause geschickt wurde, die Herausgabe interner Regierungsdokumente. Dem britischen Premier läuft die Zeit davon.

London. Das Brexit-Drama geht in seinen nächsten Akt. Ungeachtet aller Proteste setzte der britische Premierminister Boris Johnson am Montag zum Ende der Unterhausdebatte die Zwangsbeurlaubung des Parlaments in Kraft. Von „einer Schande“ sprach etwa Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour Party. Mit seinem Konfrontationskurs stärkte Johnson auch die Entschlossenheit seiner Gegner: Johnson scheiterte ein weiteres Mal mit seinem Antrag auf eine Neuwahl am 15. Oktober. Er verfehlte die nötige Zweidrittelmehrheit im Unterhaus mit 293 von 650 Stimmen bei Weitem. 

Zuvor hatte Johnson weitere Niederlagen kassiert: Die Abgeordneten stimmten unter anderem für die Herausgabe von Regierungsdokumenten und interner Kommunikation zur Planung für einen No-Deal-Brexit und zu der von Johnson auferlegten Zwangspause. Kritiker werfen Johnson vor, die Parlamentspause taktisch eingesetzt zu haben, um die Handlungsfähigkeit der Abgeordneten vor dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober einzuschränken. Nun wollen sie die Kommunikation von Regierungsmitarbeitern vor der Entscheidung sehen, bis hin zu privaten Emails und Nachrichten aus Kurznachrichtendiensten. 

Auch die Planungen für einen ungeregelten Brexit in der "Operation Yellowhammer" sollen nach dem Willen der Parlamentarier bis zum 11. September offengelegt werden. Einzelne an die Presse durchgesickerte Dokumente legen nahe, dass die Regierung die befürchteten Konsequenzen eines EU-Austritts ohne Abkommen herunterspielt. Direkte Zwangsmittel, um seine Forderung durchzusetzen, hat das in den kommenden fünf Wochen suspendierte Unterhaus jedoch nicht.

Johnson bleiben drei Optionen

Für große Überraschung sorgte John Bercow - der Präsident des Unterhauses: Er kündigte indes an, spätestens zum 31. Oktober von seinem Amt zurückzutreten. Bercow hatte im Brexit-Machtkampf zwischen der Regierung und dem Parlament eine herausragende Rolle gespielt. Erst vergangene Woche hatte er der Opposition und Rebellen aus der Tory-Fraktion ermöglicht, ein Gesetzgebungsverfahren gegen den Willen der Regierung einzuleiten. Bercow wird daher vorgeworfen, zugunsten der proeuropäischen Abgeordneten eingegriffen zu haben. Er bestreitet das.

Nicht verhindern konnte Johnson außerdem, dass ein in der vergangenen Woche im Eiltempo durch beide Kammern des Parlaments gepeitschtes Gesetz gegen einen ungeregelten EU-Austritt in Kraft trat.

Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhinderung eines No-Deal-Brexit bleiben dem Premierminister drei Optionen: 1) Eine Neuverhandlung des bestehenden Austrittsabkommens und die Annahme durch das Parlament bis zum nächsten EU-Gipfel am 19. Oktober und Austritt zum aktuellen Stichtag 31. Oktober. 2) Eine Parlamentsmehrheit für einen harten Austritt. 3) Eine Verschiebung des Brexit auf 31. Jänner.

Kommen Gerichte zum Zug?

Für die zweite Variante gibt es im Unterhaus keine Mehrheit. Die dritte Option will Johnson weiterhin unter allen Umständen verhindern. Sein Sprecher betonte gestern, „selbstverständlich werden wir das Gesetz einhalten“, erklärte aber auch: „Der Premierminister wird keinen Antrag auf Verlängerung stellen.“ Nachdem Außenminister Dominic Raab das Gesetz als „lausig“ bezeichnet hatte, wurde eine Einschaltung der Gerichte für möglich erachtet.

Von dort droht Johnson aber schon im Vorfeld heftiger Gegenwind. Sollte der Premier etwa einerseits, wie vom Gesetz verlangt, eine Verlängerung des Brexit verlangen, zugleich aber mit einem Zusatzschreiben betonen, dass er diesen Schritt gegen seinen Willen setze, würde er eine „klare Gesetzesverletzung begehen“, meinte etwa der frühere Höchstrichter Jonathan Sumption.

So skurril stellt sich mittlerweile die Situation dar, dass in London sogar das Gerücht die Runde machte, London könnte einen „befreundeten“ Staat zu überreden versuchen, gegen eine weitere Brexit-Verlängerung ein Veto einzulegen. Die EU-27 müssen einer Fortsetzung der unendlichen Geschichte geschlossen zustimmen. Frankreichs Außenminister, Jean-Yves Le Drian, drohte zuletzt: „Es ist sehr beunruhigend. Die Briten müssen uns endlich sagen, was sie wollen.“

Das wissen sie aber selbst nicht. Und so versuchte es Johnson am Montag bei einem Kurzbesuch bei seinem irischen Amtskollegen Leo Varadkar mit Variante 1 – einem Abkommen. „Ich will einen Deal. Ich bin hier, um eine Vereinbarung zu finden. Ein No-Deal-Brexit wäre ein Versagen der Staatskunst, für das wir alle verantwortlich wären“, meinte Johnson in Dublin. „Mit Energie und Einsatz“ wäre ein Abkommen durchaus drinnen. Weniger euphorisch meinte Varadkar: „Wir sind für realistische neue Vorschläge offen.“ Bloß: „Wir haben bisher keine erhalten.“ Nach der Besprechung hieß es in einem gemeinsamen Kommunique nur mehr dürr: „Bedeutende Differenzen bleiben bestehen.“

Damit läuft Johnson aber die Zeit davon. Das Parlament wird erst am 14. Oktober zur Queen's Speech wieder zusammentreten, in der die Königin in jahrhundertealtem Ritual das Regierungsprogramm Johnsons verliest. Nach der Gepflogenheit wird dann darüber in der folgenden Sitzungswoche debattiert und abgestimmt. Damit hätte Johnson aber die Frist für eine Vereinbarung mit den „europäischen Freunden“, wie er die EU-Partner hartnäckig nennt, am 19. Oktober schon versäumt.

Nicht ob, sondern wann es zu Neuwahlen kommt, ist daher die am heißesten diskutierte Frage in politischen Kreisen. „Bis ins Knochenmark wollen wir Neuwahlen“, sagte am Montag die außenpolitische Sprecherin von Labour, Emily Thornberry. „Wir werden zeigen, dass es besser geht.“ Der radikale Brexit-Hardliner Steve Baker erwiderte: „Traut euch nur. Wir werden euch zertrümmern.“ Die geschlossene Opposition bekräftigte noch vor Zusammentreten des Parlaments, man werde für Neuwahlen stimmen, „aber erst wenn die Option eines No-Deal-Brexit vom Tisch ist“.

Große Wahlversprechen

Ein möglicher Wahltermin würde damit erst auf Ende November fallen. Johnson muss fürchten, dass sein Kalkül nicht aufgeht, durch eine harte Haltung die Anhänger der Brexit Party von Nigel Farage wieder für seine Konservativen zu gewinnen. Dafür setzt er auf Wahlversprechen. Schon in der Vorwoche ließ er seinen Schatzkanzler Sajid Javid das Füllhorn ausschütten: mehr Polizei auf der Straße, mehr Geld für das Gesundheitswesen, mehr Investitionen in die Bildung. Bis zu 15 Milliarden Pfund will Johnson ausgeben, alles auf Pump. „Die Zeit der Sparpolitik ist vorbei“, versprach Javid.

Ob das Kalkül aufgeht, bleibt dennoch fraglich. Ein am Wochenende aus dem Regierungsdienst entlassener Berater der zurückgetretenen Sozialministerin Amber Rudd enthüllte gestern, im Umfeld des Premiers habe man Umfragen, wonach „Johnson keine Chance auf eine Mehrheit“ habe. Demnach liegen die Konservativen derzeit bei 295 bis 300, klar unter der Mehrheit von 326 Sitzen. Der Berater Jason Stein: „Hinter vorgehaltener Hand räumen seine Leute ein, dass dies eine beinharte Wahl sein wird und alles andere als ein Sonntagsspaziergang für Johnson.“

Mehr und mehr zeichnet sich auch ab, dass die wiedererstarkten Liberaldemokraten nicht nur die Anti-Brexit-Stimmen mit Labour spaltet, sondern auch pro-europäische Konservative für sich gewinnen kann. Viele von ihnen wollen aus Protest gegen die Führung Johnsons nicht mehr kandidieren. Der Politologe Matthew Goodwin: „Das Land stimmt nicht mehr links und rechts, sondern nach pro- oder anti-Brexit ab.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2019)

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