Fotografie: Die Entzauberung der Einfachheit

Momente des Urbanen, hier auf dem Strich in Las Vegas: „Marilyn“ von Philip-Lorca diCorcia. 1990-92.
Momente des Urbanen, hier auf dem Strich in Las Vegas: „Marilyn“ von Philip-Lorca diCorcia. 1990-92. (c) Philip-Lorca diCorcia
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Eine große Ausstellung im Kunst Haus Wien über die Entwicklung der „Street Photography“ zeigt, wie unterschiedlich die Fotokünstler bis heute mit dem Geschichtenerzählen und der Frage der Authentizität von Fotografie umgehen.

Wo fängt man an, wo hört man auf, stellt man eine Ausstellung über „Street Photography“ zusammen? Gemeint ist damit ein Genre der Fotokunst, das sich mit Verbreitung handlicher Kameras Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte. Man ging aus den Ateliers hinaus in die urbane Stadt und fotografierte alltägliche Momente. Keine großen, sondern die kleinen, poetischen, stillen Momente. Ein Kuss über einen Bistrotisch hinweg. Ein Bub, der über eine Regenpfütze springt. Den „entscheidenden Moment“, dem man sich laut Henri Cartier-Bresson „auf Samtpfoten“ nähern müsse. Muss also auch eine Ausstellung über Street Photography so beginnen?

Nein, findet Kuratorin Sabine Schnakenberg. Cartier-Bresson wegzulassen sei sogar einer von drei Vorsätzen gewesen, als sie begonnen habe, diese Ausstellung erst für die Hamburger Deichtorhallen zusammenzustellen. Denn, so erklärt sie bei der zweiten Station der dafür adaptierten Schau in Wien – Cartier-Bresson sei einfach schon zu abgefrühstückt, völlig durchdekliniert. Eine klassische Chronologie seit 1930 wollte sie auch nicht liefern, zu langweilig. Sie entschied sich für fünf inhaltliche Kapitel.

Dieser Bub schießt zurück

So weit, so normal, was im Zusammenhang mit der unprätentiösen Street Photography ja eher eine Auszeichnung ist. Alltäglich ist die Ausstellung dennoch nicht, sie ist doch recht umfassend mit mehr als 35 historischen und zeitgenössischen Fotografinnen und Fotografen und über 200 Werken. Die Hälfte stammt aus der Sammlung des deutschen Modefotografen F. C. Gundlach, dessen in den Deichtorhallen aufbewahrte Sammlung Schnakenberg seit vielen Jahren schon betreut. Das ist eindeutig ein Vorteil, so gab es Zugang zu einigen Ikonen wie einem bisher unveröffentlichten Bild aus Robert Franks berühmter „The Americans“-Serie, die 1959 als Buch erschien. Oder zu Lisette Models freakiger Passanten-Show. Model steht hier gleich am Anfang für den einen, den klassischen Cartier-Bresson-Weg des „Auflauerns“. Ihr späterer US-Kollege William Klein steht für den gegenteiligen Zugang, für das Sichtbarmachen des Fotografen, für das bewusste, distanzlose Interagieren mit den porträtierten Menschen: Wenn etwa ein Bub auf New Yorks Straßen „zurückschießt“, mit der Spielzeugpistole direkt auf den Fotografen zielt.

Der dritte Weg, der in die Inszenierung, wird von Lisette-Model-Schülerin Diane Arbus eingeschlagen. Dieser konzeptuelle Zugang wird prägend für die weitere Entwicklung der Fotografie in Richtung (bildende) Kunst. Es macht Spaß, diese drei Bewegungen in jedem der Kapitel aufzuspüren, angefangen von den „Passanten“ über „Public Traffic“, also Aufnahmen in öffentlichen Verkehrsmitteln, zu „Crashes“, „Verfremdungen“ und „Anonymität“. Ganz klassisch auf „Samtpfoten“ etwa der polnische Fotograf Maciej Dakowicz, wenn er im englischen Cardiff die Ausschweifungen der partymachenden Jugend festhält (siehe Abb.). Wie Heiligenbilder dagegen Michael Wolfs Serie japanischer U-Bahn-Passagiere, die von der Masse gegen die beschlagenen Fenster gepresst werden. Man sieht ihre Gesichter unscharf, in geduldiger Leidenshaltung, wie im Schneewittchensarg, so Schnakenberg.

Durch „Schmutzige Fenster“ knipsen

Auffällig bei den heutigen Fotografen ist dieses jahrelange Verfolgen einzelner Werkblöcke. Immer wieder wird dafür an bestimmte Orte zurückgekehrt. Merry Alpern etwa fotografierte einen ganzen Winter 1993/94 wie besessen das Klofenster eines Nachtclubs gegenüber der Wohnung eines Freundes in New York – „Dirty Windows“ ist der Titel der Serie und das ist durchaus doppeldeutig zu verstehen. 2011 bis 2014 fotografierte Dougie Wallace die Taxifahrer in Mumbai ganz in William Kleins Tradition der direkten Konfrontation, wobei er den Speed, die Geschwindigkeit der Situation beeindruckend ins Bild einfangen konnte.

Den nächsten Schritt weiter geht Peter Funch, wenn er aus Tausenden Fotos von Menschen an einer einzigen Straßenkreuzung am Computer ganz neue Fotos collagiert – alle Menschen etwa, die Hunde an Leinen halten, in ein Bild. Oder alle, die laufen. Hier ist schon der wesentliche Schritt gegangen, weg von der Authentizität, die überraschenderweise sogar im 21. Jahrhundert, in Zeiten von Deep Fakes, immer noch mit Fotografie verbunden wird. Diese Irritation schaffen auch Mohamed Bourouissas Bilder, die aussehen wie Fotoreportagen gefährlicher Situationen aus den Pariser Beaulieus. Nur ist diese „Street Photography“ eine gestellte, mit Freunden und Schauspielern. Hier agiert kein Fotograf auf Samtpfoten, sondern als Entzauberer.

Street. Life. Photography. Untere Weißgerberstr. 13, Wien 3, bis 16. 2., tägl. 10–18h.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2019)

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