Ein Suizid ist nicht nur Privatsache der Betroffenen

Halb voll, halb leer. So verschoben war für Tobias in den letzten Monaten seines Lebens die Welt.
Halb voll, halb leer. So verschoben war für Tobias in den letzten Monaten seines Lebens die Welt. Beigestellt
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Heute ist Welttag der Suizidprävention. Golli Marboes Sohn hat sich vor einigen Monaten das Leben genommen. Nun will der Vater darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, behutsam und offen über die Ursachen solcher Handlungen zu sprechen und auch zu berichten.

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Die Stimme von Tobias kommt aus den Lautsprechern. In seinem Abschiedsbrief hat er sich gewünscht, dass wir seinen „einsamen Astronauten“ bei der Beerdigung spielen sollten.

Ein großformatiges Foto mit dem ihm so eigenen Lächeln und seinem typischen Grübchen steht neben Pater Nikolaus in der Aufbahrungshalle. Niki, der Tobias sein ganzes Leben lang kannte, hat sich die Predigt ausgedruckt. Er wollte sicherheitshalber – auch wenn er schon viele Begräbnisse als Priester gehalten hatte – ablesen können. Und das tat er auch.

Wir hatten riesige Angst vor diesen Momenten des vermeintlich „endgültigen“ Abschieds. Eigentlich begann dieser Abschied aber wohl schon viel früher. Tobias hatte sich in den Wochen vor seinem Tod sehr auf seine Projekte konzentriert. Er hat jeden Tag gearbeitet. Ist in der Früh aufgestanden um zu texten, zu malen, zu filmen, um zu suchen? Er war zu stolz Sozialhilfe zu beantragen – lieber lebte er von dem Wenigen, was er noch gespart hatte. Irgendwann müsse doch eines der Projekte auch einmal aufgehen? Irgendwann müsse doch endlich auch Geld herein kommen?

Tobias hat sich mehr und mehr zurück gezogen. Er sehnte sich nach Wertschätzung. Ganz abgesehen davon war es ihm unangenehm über seine wirtschaftliche Lage zu sprechen. Wer war verantwortlich dafür? Waren seine Projekte, seine Kunst nicht interessant genug? Oder waren die Anderen nicht aufmerksam genug, um zu erkennen, was er da anbietet? Lob und Anerkennung der Familie nahm er wahr. Schätzte Tobias auch. Aber das konnte ihn nicht zufrieden stellen. Er wollte Wertschätzung aus der Gesellschaft, der Umwelt, vom Publikum.

Am Tag, als sich dann Tobias das Leben nahm, da haben wir mit ihm gemeinsam noch seine Wohnung ausgeräumt. Zu unserer großen Freude hatte er zugestimmt auf eine kurze Zeit wieder zu uns in die elterliche Wohnung zu ziehen.

Alles, was Tobias besonders wichtig war, seine Bilder, seine vergrößerten Fotos, seine kleinen schwarzen Notizbücher, oder auch jene T-Shirts auf denen sich die von ihm kreierten Wort Bild Collagen finden, haben wir eingepackt. Ohne dass uns das bewusst war, hat der Bub mit uns gemeinsam vorsortiert, was wir von ihm also in Erinnerung behalten sollen.

Wir waren nicht in der Lage, die Zeichen zu lesen

Zwei Mal sind wir mit diesen ihm wichtigsten Dingen also aus seiner kleinen Wohnung im 15.Bezirk zu uns nach Hause gefahren. Im Zuge dieser Übersiedlung sagte Tobias zu mir: „Papa pass darauf auf, dass in unserer Familie niemand mehr so traurig wird, wie ich es geworden bin.“ Diesen Satz habe ich als ein Zeichen der Öffnung augenscheinlich falsch interpretiert. Wir dachten nicht, dass unser Sohn seinen Suizid im Kopf haben könnte. Wir waren nicht in der Lage, die Zeichen zu lesen.

Dementsprechend möchte ich am Welttag der Suizidprävention mithelfen, der Sorge vor einem „Werther-Effekt“ einen „Papageno Effekt“ entgegen zu stellen: Damit wir alle besser vorleben lernen, was im Alltag lebenswert erscheinen kann. Damit wir den Gebrauch von Medikamenten bei psychischen Beschwerden entstigmatisieren. Damit wir deutlicher machen, was Hinterbliebene empfinden, wenn ein naher Mensch geht.

Damit wir sensibilisieren helfen, dass Suizid nicht nur Privatsache der Betroffenen und ihrer Angehöriger, sondern eben auch eine Frage des gesellschaftlichen Klimas ist.

In einem Land, in dem die Menschen mehr als zehn Stunden täglich mit Medien verbringen, muss ein so relevantes Thema, wie Suizid in angemessener Form auch im Radio, im Fernsehen, in Zeitungen und im Netz viel intensiver besprochen werden.

Als wir gerade für Tobias das Bett überzogen, da hat er seinen Abschiedsbrief verfasst – einige Meter entfernt von uns – einen Brief aus dem zu spüren war, dass unser Sohn zuhause sterben wollte. In vertrautem Umfeld und nicht irgendwo vereinsamt und anonym. Tobias kam heim. Aber nicht um uns ein ewiges Trauma oder etwa Vorwürfe zu hinterlassen, sondern aus Liebe: Weil er wusste, er könne uns allen das zumuten. Wir werden ihn weiter und uneingeschränkt lieben.

Natürlich fühlt sich das Leben in unserer Wohnung seit damals völlig anders an, als vor diesem Tag. So aber gibt es eben keinen „endgültigen“ Abschied von Tobias. Das tägliche Erinnern ist nicht nur Last, es ist auch schön.

Das Erinnern, ob bei der Kerze in unserer Wohnung, die für Tobias brennt, ob am Friedhof, oder an jeder zweiten Ecke in der Stadt, die wir mit einem gemeinsamen Erlebnis verbinden.

Die vielen Freunde und Verwandten, die bei der Beerdigung und der Seelenmesse dabei waren, die haben uns gut getan. Ihre Anwesenheit war ein Zeichen der Liebe zu Tobias. Die Atmosphäre und die Schwingungen waren großartig. Keine Sentimentalität darüber, was noch alles hätte sein können oder müssen. Gar nicht so viele Tränen. Stattdessen Geschichten von gemeinsamen Erlebnissen, Stunden, und vor allem die Freude darüber, was Tobias in seinen 29 Jahren alles geschaffen hat.

Aus der großen Angst vor diesem Tag der Beerdigung, entsprang dann eigenartiger Weise die erste Nacht in der wir ein bisschen besser schlafen konnten.

Der 10. September ist der Welttag der Suizidprävention. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) begründete die Ausrufung dieses Aktionstages im Jahr 2003 damit, dass Suizid eines der größten Gesundheitsprobleme der Welt darstelle. Jährlich nehmen sich rund 800.000 Menschen das Leben. Der Aktionstag soll die Bevölkerung dafür sensibilisieren, dass Suizid ein enormes Problem der modernen Welt darstellt.

Zum Autor

Golli Marboe (*1965) war viele Jahre TV-Produzent und ist heute u. a. Obmann des Vereins VsUM (Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien). Er ist Vater von vier Kindern und lebt in Wien, sein Sohn Tobias nahm sich im vergangenen Winter das Leben.

Anlaufstellen bei persönlichen Krisen:

Es gibt eine Reihe Hilfseinrichtungen und Anlaufstellen für Menschen in akuten Krisensituationen. Unter www.suizid-praevention.gv.at findet man Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.

Telefonische Hilfe gibt es auch bei:

· Kriseninterventionszentrum (Mo-Fr 10-17 Uhr): 01/406 95 95, kriseninterventionszentrum.at

· Rat und Hilfe bei Suizidgefahr 0810/97 71 55

· Psychiatrische Soforthilfe (0-24 Uhr): 01/313 30

· Sozialpsychiatrischer Notdienst 01/310 87 79

· Telefonseelsorge (0-24 Uhr, kostenlos): 142

· Rat auf Draht (0-24 Uhr, für Kinder & Jugendliche): 147

Gesprächs- und Verhaltenstipps: bittelebe.at

Hilfe für Menschen mit Suizidgedanken und Angehörige bietet auch der noch recht junge Verein „Bleib bei uns“. www.bleibbeiuns.at



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