Zwischen den Stühlen

Côte d'Opale: Brexit or not, wir werden bleiben!

Die Royal Air Force bombardierte die Côte d'Opale intensiv, um Hitler im Glauben zu lassen, hier werde die Invasion stattfinden.
Die Royal Air Force bombardierte die Côte d'Opale intensiv, um Hitler im Glauben zu lassen, hier werde die Invasion stattfinden. Imago
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An der Küste im Norden Frankreichs leben viele Briten, die jetzt französische Staatsbürger werden wollen.

Man hat hier immer das Gefühl, durch ein Cinemascope-Bild zu spazieren, so weit ist der Himmel. Für den 3-D-Effekt sorgen tief vorbeiziehende Wolken, die eine ständige Brise vom Ozean in Richtung Küste weht. „Ärmelkanal“ ist schließlich ein viel zu harmloser Begriff für das Stück Atlantik, das heftig an der Steilküste rüttelt und dabei bis zu dreißig Zentimeter pro Jahr von ihr abbricht. Doch an der Côte d'Opale hoch im Norden Frankreichs ist der Horizont tatsächlich nicht ganz so endlos wie etwas weiter im Süden: England verstellt den Blick, die Kreidefelsen von Dover leuchten aus gerade einmal 34 Kilometern Entfernung über das Wasser.

Nur einer will sie nicht sehen. Mit trotzigem Gesicht und in die Stirn gezogenem Zweispitz wendet Napoleon der britischen Küste die Kehrseite zu, weithin sichtbar auf einer Säule von 50 Metern Höhe. Das Monument etwas außerhalb von Boulogne-sur-Mer erinnert an den gescheiterten Versuch des Kaisers der Franzosen, ein Dreivierteljahrtausend nach dem Normannen Wilhelm wieder einmal England zu erobern. Eine österreichische Offensive zwang ihn im letzten Moment, seine Soldaten statt an die Themse nach Austerlitz zu führen. Die Ausrichtung der Statue ist damit zumindest teilweise erklärt.

Plumpudding als Dessert

Man muss aber gar nicht die 264 Stufen bis zur Aussichtsplattform erklimmen und von dort den Blick statt zum großen kleinen Korsen in Richtung der englischen Küste schweifen lassen, um ein Gefühl für die seit jeher komplizierten französisch-britischen Beziehungen zu bekommen. Dazu wirft man besser einen Blick in die erstbeste Speisekarte einer beliebigen Brasserie an der Côte d'Opale: Die Liebe geht schließlich durch den Magen, auch und gerade in Frankreich. Dass eine der wichtigsten kulinarischen Spezialitäten Nordfrankreichs „Welsh Rarebit“ heißt, lässt auf ein inniges Verhältnis zum nordwestlichen Nachbarn schließen. So wie die lokale Tradition, zu Weihnachten nicht wie im restlichen Frankreich einen Bûche genannten Kuchen, sondern einen typisch englischen Plumpudding als Dessert zu servieren. Nicht nur geografisch ist England nahe, auch emotional ist die Bindung zwischen dem französischen Norden und seinen britischen Nachbarn traditionell eng. Wirtschaftlich sowieso. Der unerbittlich näher rückende Brexit wird das nicht ändern, im Gegenteil: Das oberste der sechs Ecken Frankreichs wird durch ihn wohl noch ein gutes Stück britischer.

Wie viele ihrer Landsleute hoffen derzeit etwa Judy und Nick Gifford, die in einem selbst renovierten Bauernhof in der Nähe der Zisterzienserabtei von Valloires leben, auf eine baldige Erledigung ihres Antrags auf die französische Staatsbürgerschaft. Vor dreißig Jahren waren die beiden Filmemacher aus England nach Frankreich gezogen, kochten in ihrer Freizeit Orangenmarmelade nach einem alten Rezept und verkauften sie auf dem Wochenmarkt. Als eines Tages Alain Ducasse Marmelade für sein Frühstücksbuffet bestellte, hängten die Giffords ihre Kameras an den Nagel. Bis 2014 kamen sie kaum noch weg von den vielen Kupferkesseln, dann übernahm ihr Sohn Eli den Laden und übersiedelte die Manufaktur ins nahe Le Touquet.

Côte d'Opale
Côte d'OpaleImago

Savoir-faire und Tradition

Eli, der mittlerweile Luxushotels in aller Welt beliefert, bezeichnet das Familienunternehmen als „ideale Mischung aus französischem Savoir-faire und britischer Tradition“. Auch der Firmenstandort Le Touquet-Paris-Plage und der gesamte Küstenabschnitt selbst sind eine solche französisch-britische Mischung: Der Brite John Whitley kaufte Ende des 19. Jahrhunderts weitläufige Ländereien südlich der Mündung des Flusses Canche und ließ dort Luxushotels und edle Sportanlagen errichten, um wohlhabende Briten in die Gegend zu locken. Von Maurice Ravel bis Emmanuel Macron reicht die Liste illustrer Gäste, die dem noblen Ferienort mit den vielen denkmalgeschützten Villen sein besonderes Gepräge geben. Eli Gifford sieht die Vorteile des Standorts pragmatisch: „Wir sind hier auf halbem Weg zwischen Paris und dem Vereinigten Königreich, die Infrastruktur stimmt, und schön ist es auch.“ Ob er sich keine Sorgen wegen des Brexit macht? „Wenn wir Qatar und Japan beliefern können, werden wir das auch im Post-Brexit-Britannien hinkriegen“, gibt sich der quirlige Thirty-Something unbeeindruckt. Ist die Doppelstaatsbürgerschaft einmal bewilligt, wird er auch nach vollzogenem Austritt seines Geburtslandes ungestört seinen Geschäften nachgehen können.

Doppelstaatsbürger

Auch Alison und Jon Haslock, die ein Stück weiter im Landesinneren wohnen, werden bald „richtige“ Franzosen sein. Sie sind 2005 aus Nordengland ins Dörfchen La Boisselle übersiedelt, auf halbem Weg zwischen Amiens und Arras, um dort ihren Traum zu leben: Jon, ein ehemaliger Stahlarbeiter, hatte sich neben seinem Job in Abendkursen zum Historiker fortgebildet. Er führt heute Reisegruppen über die Schlachtfelder an der Somme, wo Zehntausende Briten im Ersten Weltkrieg kämpften. Alison betreibt den typisch britischen Old Blighty Tearoom. Unmittelbar nebenan befindet sich eine wichtige Attraktion für viele Reisegruppen: Der Lochnagar-Krater, ein riesiges Loch in der Landschaft. Die Sprengung der Minen, die britische Pioniere bis unter die vordersten deutschen Linien getrieben hatten, gab am 1. Juli 1916 das Startsignal für die Sommeschlacht. Die gewaltige Explosion soll bis London zu hören gewesen sein.

Doch dieses Jahr ist es ruhig geworden in La Boisselle. Jon wurde von Reiseveranstaltern darüber informiert, dass wegen der Unsicherheit rund um den Brexit einige geplante Fahrten nicht zustande gekommen sind. „Niemand weiß, was auf uns zukommt, das ist das Schreckliche.“ Auch die Haslocks haben um die Doppelstaatsbürgerschaft angesucht, die einzige Option für viele britische Staatsbürger, die sich in Frankreich eine berufliche und familiäre Existenz geschaffen haben. Das unterscheidet den französischen Norden von Gebieten wie dem Périgord, wo ganze Dörfer ausschließlich von Engländern bewohnt werden: „Im Süden leben lauter Pensionisten. Hier in Nordfrankreich sind die britischen Expats deutlich jünger und haben Unternehmen aufgebaut, das macht den Brexit viel bedrohlicher.“ Nur eines ist den Haslocks sonnenklar: „Niemand wird deswegen zurückgehen.“

Wie viele Briten in Nordfrankreich leben, weiß man mangels Statistiken gar nicht. Auch die gebürtige Britin Diana Hounslow, oberste Touristikerin des Départements Pas-de-Calais, kennt nur Schätzungen mit hoher Schwankungsbreite, die für ganz Frankreich etwa 150.000 bis 400.000 britische Staatsbürger annehmen. Fix ist nur, dass die Anträge auf die französische Staatsbürgerschaft stark zunehmen. Da sich viele Briten aktiv ins Gemeindeleben einbringen, wird es im Pas-de-Calais wohl bald den einen oder anderen Bürgermeister mit englischem Akzent geben.

Für Hounslow ist der Brexit eben ein weiteres Kapitel der langen, wechselvollen britisch-französischen Geschichte der Region, die seit jeher von britischen Gästen profitierte. Promis von einst wie Charles Dickens verbrachten ihre Ferien gern in Boulogne-sur-Mer. Doch die Geschichte ist auch eine Bürde: Die Ärmelkanalküste war der stärkste Teil von Hitlers „Atlantikwall“. Um die Nazi-Strategen im Glauben zu belassen, der alliierte Angriff würde hier stattfinden, bombardierte die Royal Air Force die nordfranzösische Küste intensiv.

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Die Narben nicht verstecken

Heute zählt der damals umgepflügte Landstrich um das Cap Gris-Nez zu den 18 mit dem Label „Grand Site de France“ ausgezeichneten Gebieten Frankreichs. Nicht nur die landschaftliche Schönheit der Küste mit ihren Kreidefelsen und kleinen Buchten war für die Auszeichnung ausschlaggebend: „Wir haben uns mit dem Ziel um das Label beworben, die Narben, die der Weltkrieg in die Landschaft geschlagen hat, nicht zu verstecken“, erklärt Diana Hounslow auf einer Café-Terrasse im Badeort Wimereux. An beiden Enden des weiten Sandstrands befinden sich heute noch stattliche Bunkeranlagen. Gerade einmal acht Kilometer sind es zum Parkzentrum Maison des Deux Caps. In dessen unmittelbarer Nachbarschaft steht eine riesige Kanone namens Leopold neben einem zum Museum gewordenen Blockhaus, als würde sie die englische Küste jederzeit wieder unter Beschuss nehmen können.

Fährt man von Wimereux in Richtung Süden, führt die Landstraße am Schloss von Hardelot vorbei, das im 19. Jahrhundert im Neo-Tudor-Stil auf mittelalterlichen Ruinen neu erbaut wurde. Seit 2009 beherbergt es das Kulturzentrum der Entente cordiale. Dessen Mission: Dem französischen Publikum die britische Kultur näherzubringen. „Wir werden auch nach dem Brexit ganz normal damit weitermachen. Gute Beziehungen zu Großbritannien sind schließlich unser Markenzeichen“, erklärt Direktor Eric Gendron. Und doch weht seit der Brexit-Abstimmung ein ironischer Hauch der Geschichte durchs romantische Gemäuer: Anlässlich des 400. Todestags William Shakespeares wurde neben dem Schloss das erste „elisabethanische“ Theater Frankreichs eingeweiht. Der elegante Rundbau erinnert an Shakespeares erste Bühne, das Rose, und wurde von den World Architecture News mit dem Preis für die weltweit beste Holzkonstruktion ausgezeichnet. Ausgerechnet am Eröffnungswochenende fand das Brexit-Referendum statt – die Feierlaune war an jenem Juniabend gedämpft. Auch Architekt Andrew Todd beantragte wenig später die französische Staatsbürgerschaft. Shakespeare hätte diese Wendung wohl gefallen: Er liebte Tragikomödien, bei ihm gehen sie meistens gut aus.

Infos

Napoleon-Säule: La Colonne de la Grande Armée, Avenue de la Colonne, Wimille. www.colonne-grande-armee.fr

Le Tearoom (Judy & Nick Gifford): 1 Rue du Marais, Saint-Rémy-au-Bois. www.le-tearoom.com, www.teatogether.com

Gästezimmer in der Abtei:Abbaye de Valloires, Argoules. www.abbaye-valloires.com/hotellerie

Old Blighty Tearoom & Tours: 1 Rue Georges Cuvillie, La Boisselle. www.oldblightytearoomsomme.com

La Maison des deux Caps (Karten- und Infomaterial zur Grand Site de France): La Sence, Audinghen. www.les2caps.fr

Atlantikwall-Museum im Bunker: Batterie Todt, Hameau de Haringzelle, Audinghen. www.batterietodt.com

Schloss Hardelot/elisabethanisches Theater: 1 Rue de la Source, Hardelot. www.chateau-hardelot.fr

Weitere Infos:www.at.france.fr

Compliance: Die Reise wurde von Atout France unterstützt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2019)

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