Wieso Rumänien seine Jugend verlor

Der Reiz des Westens ist nur eine Erklärung. Die Basis für die Migration legte der Ceauşescu-Staat.

Das Ende des Kommunismus erwischte Rumäniens Arbeitsmarkt spät, aber heftig: 1996 löste die liberale Partei die Sozialdemokraten ab, vorbei war es mit der sanften Landung am freien Markt. Tausende ineffiziente öffentliche Stellen wurden gestrichen, die Firmen privatisiert. Plötzlich standen Massen – 65 Prozent der Bevölkerung waren im Arbeitsalter – einem kollabierten Arbeitsmarkt gegenüber.

Das Ungleichgewicht ging auf das Dekret 770 von Diktator N. Ceauşescu aus 1966 zurück: Abtreibungen waren bis 1989 verboten. „Das ist die Basis der Migration der letzten zwanzig Jahre“, sagt Ökonom Marius Cristea, Berater der Weltbank in Rumänien.

Die „Dekretei“ verließen nach einer kurzen Schockstarre und Jahren, in denen noch Arbeitslosengeld floss, das Land. 2007 wurde das durch den EU-Beitritt leichter, allein in dem einen Jahr wanderte eine halbe Million Rumänen aus. Nach Schätzungen der Weltbank, stichhaltige offizielle Zahlen gibt es nicht, leben fünf Millionen im Ausland, laut Eurostat sind es drei. 2011, zum Zeitpunkt des letzten Eurostat-Zensus, waren 46 Prozent 20 bis 34 Jahre alt.

Zuerst hatten die Geringqualifizierten die ländlichen Regionen verlassen, um auf spanischen und italienischen Feldern und Baustellen zu arbeiten. In den letzten Jahren habe sich das gedreht, sagt Cristea. Ärzte, Techniker, Chemiker gingen, vor allem nach Großbritannien.


Abgeworbene Ärzte.
Johannes Becker ist seit 2003 in Rumänien, seit 2016 leitet er die Beratung TPA in Bukarest. Er kennt die Situation. Westliche Agenturen hätten jahrelang Ärzte abgeworben, die Politik habe die Warnrufe der Wirtschaft nicht gehört. Die Menschen seien nicht nur wegen der Bezahlung, sondern wegen der wirtschaftlichen und politischen Umstände gegangen. „Techniker, die hier 3000 Euro verdienen würden, wandern mit 50 Jahren aus, weil sie Angst haben, dass ihre Kinder nicht die gleiche Ausbildung bekommen“, sagt auch Cristea.

Die Politik sah lang zu, die Emigranten schickten viel Geld heim. Auf Druck der Firmen, die einem leer gefegten Arbeitsmarkt gegenüberstehen, passierten zwei Dinge: Für bestimmte Sparten wie IT, Bau oder Medizin gibt es starke Steuererleichterungen, um mit westlichen Gehältern mitzuhalten. Man fing an, Arbeiter aus Asien (vor allem aus Vietnam) zu importieren. 55.000 Asiaten arbeiten heute auf den Baugerüsten, in den Werften, Textilfabriken und Restaurants Rumäniens.

Die hellste Zukunft sieht Becker für IT-Firmen. Auch ihr Erfolg wurzelt im Kommunismus: Rumänien war die IT-Speerspitze der Sowjetunion, danach gründeten die Professoren eigene Firmen. Sie kämpften aber nicht mit Abwanderung, sondern hätten schlicht mehr Aufträge als Programmierer.

Steckbrief

Marius Cristea
arbeitet als Berater der Weltbank in Bukarest. Sein Schwerpunkt liegt auf Migration und Arbeitsmarkt.

Cristea studierte Wirtschaft in Klausenburg (Cluj-Napoca) und Geografie in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2019)

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