„Verlieren die Fähigkeit, allein zu sein“

Ursula Wagner.
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Autorin Ursula Wagner plädiert für bewusste Zeit allein, die sie als wohltuend empfindet.

Wieso sollten sich Menschen Zeit für sich selbst nehmen?

Ursula Wagner: Ich vergleiche das gern mit einem Glas Wasser, in dem sich unten Schlamm befindet. Den ganzen Tag wird das Glas durchgeschüttelt mit ganz vielen Eindrücken, das Wasser wird trübe. Erst wenn wir allein sind, setzt sich der Schlamm, und das Wasser wird klar. Man bekommt Einblick, was wichtig ist, und wird sich seiner Werte, seiner selbst viel mehr bewusst.

Sind wir heute zu wenig allein?

Tatsächlich sind wir auch durch die sozialen Netzwerke heute wesentlich mehr in Kontakt, wir werden viel häufiger in unseren Gedanken unterbrochen. Ich finde es wunderschön, dank des Internets mit Freunden weltweit verbunden zu sein. Aber wir müssen aufpassen: Durch die permanente Social-Media-Flut verlieren wir unsere Fähigkeit, uns zu konzentrieren und mit uns allein zu sein.

Wieso fällt es manchen Leuten leichter, anderen schwerer, allein zu sein?

Menschen, die nicht selbst erlebt haben, wie wohltuend das Alleinsein sein kann, empfinden es oft als Defizit. Es hängt aber sicher auch mit der sozialen Erwartung zusammen. In ein Kaffeehaus geht man eher allein, weil dort viele Menschen allein sind, etwa um zu lesen. Ein Restaurantbesuch oder ein Urlaub allein kann herausfordernder sein, weil sozial erwartet wird, dass man das nicht allein unternimmt. Da fühlen wir uns schnell einsam. Dann ist es auch eine Frage der Persönlichkeit. Introvertierte Menschen haben ein stärkeres Bedürfnis danach als extrovertierte.

In Ihrem Buch finden sich Übungen, wie man das Alleinsein lernen kann. Kann man sich das tatsächlich aneignen?

Man muss ja nicht gleich allein auf Urlaub fahren. Aber vielleicht einen Spaziergang machen oder sein Strickzeug auspacken und dabei seinen eigenen Gedanken zuhören statt sich mit anderen zu unterhalten. Es ist aber wichtig, zwischen Alleinsein und Einsamkeit zu unterscheiden. Einsamkeit ist das Gefühl, sich nicht mit seiner Umwelt verbunden zu fühlen. Das ist nichts Positives. Menschen, die sich einsam fühlen, sollten versuchen, mit anderen in Kontakt zu kommen – etwa, indem sie sich in einem Hobby oder karitativ engagieren. Das tut einem selbst auch gut, man fühlt sich selbst weniger bedürftig.

Ist das bewusste Alleinsein gesellschaftlich zu wenig akzeptiert?

Auf jeden Fall. Vernetzt zu sein ist ein Ideal. Sagt jemand etwa ein Treffen mit der Begründung ab, er wäre lieber allein, wird das oft negativ aufgenommen. Weil sich etwa auch depressive Menschen zurückziehen. Da muss man auch differenzieren. Man darf Alleinsein nicht generell glorifizieren.

Steckbrief

Ursula Wagner,
Inhaberin des Coaching-Centers Berlin, ist Ausbilderin von Coaches und Karrierecoach.

„Die Kunst des Alleinseins“ (Theseus-Verlag) war 2005 eines der ersten Sachbücher zum Thema Alleinsein und wurde mehrfach aufgelegt.
?Die Hoffotografen Berlin

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2019)

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