Brüsseler Kulturkampf um die europäische Lebensart

Die Kritik am Namen eines Ressorts in der neuen EU-Kommission unter Ursula von der Leyen legt blinde Flecken im europäischen Diskurs offen.

Kaum hatte Ursula von der Leyen vergangenen Dienstag die Wunschkandidaten für ihre Équipe vorgestellt, da löste sie bereits die erste große Kontroverse aus. Der Grieche Margaritis Schinas soll ihren Vorstellungen zufolge Vizepräsident für den Schutz der europäischen Lebensart werden. Im Rahmen dessen soll er auch die Reform des europäischen Migrations- und Asylwesens leiten.

Rasch hagelte es Kritik, von Politikern und Aktivisten links der Mitte ebenso wie von Amnesty International und Human Rights Watch. Die „europäische Lebensart“ mit der Frage der Zuwanderung zu verknüpfen, sei ein Kotau vor den Rechtsextremisten, erregte sich beispielsweise der belgische Fraktionschef der Grünen im Europaparlament, Philippe Lamberts.

Interessanterweise ist es nicht das erste Mal, dass von der Leyen die Bezeichnung „Protecting Our European Way of Life“ zur Beschreibung der Aufgaben ihrer neuen Kommission verwendet. Am 16. Juli, anlässlich ihrer Wahl durch das Europaparlament in Straßburg, legte sie ihre politischen Leitlinien vor. Da war diese Formulierung mit genau demselben Inhalt zu lesen, wie sie nun den Aufgabenbereich von Schinas, des bisherigen Chefpressesprechers der Kommission, umschreibt. Wesentlicher Unterschied: Damals gab es kein Wort des Protestes zu hören, keine Geraune über angebliche augenzwinkernde Zeichen des Zugeständnisses an Rassisten und Rechtsradikale.

Haben all die nun so wortreich Empörten damals nicht genau hingeschaut? Man weiß es nicht. Gewiss ist jedoch, dass sie jetzt nicht genau zu lesen bereit sind. Denn in ihrem Schreiben an Schinas definiert die designierte Präsidentin, was sie sich unter der europäischen Lebensweise vorstellt. Sie baue auf „Solidarität, Seelenruhe und Sicherheit. Wir müssen legitime Ängste und Sorgen betreffend irreguläre Migration ansprechen und zerstreuen.“ Das ist natürlich keine erschöpfende Liste. Via Twitter legte von der Leyen am Donnerstag noch Artikel 2 des EU-Vertrages nach.

Er sei hier der Vollständigkeit halber zitiert, weil man ihn angesichts der politischen Entgleisungen in Polen, Ungarn, Rumänien, Tschechien und Bulgarien öfter lesen sollte: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Natürlich besänftigt dies von der Leyens Kritiker nicht. Hier flackert ein Kulturkampf auf, in dem es nicht um Argumente, sondern um moralische Selbstgewissheiten geht. Das war schon im Jahr 2000 so, als der aus Syrien stammende Politikwissenschaftler Bassam Tibi den Begriff der „Leitkultur“ formulierte und prompt genau entgegen seinen Argumenten interpretiert wurde. Tibi wollte Deutschland nicht als Christenvolk mit Schweinshaxenpflicht verstanden wissen, sondern ihm eine „innere Hausordnung“ geben, zu der man sich auch bekennen kann, wenn man anders isst oder betet. Also eine Leitkultur. Seine Gegner interessierte das nicht. Sie wollten ihn missverstehen.

Was wäre, jenseits der Aufzählung in Artikel 2, die „europäische Lebensart“? Darüber zu sprechen scheint vor allem Linken schwerzufallen. Lebensart, Heimat, Volkskultur: Sie fürchten, mit diesen Worten den Diskurs der Freiheitsfeinde zu fördern. Wissenschaftlich belegt ist diese Annahme nicht. Man kann genauso gut argumentieren, dass man diskursives Terrain von den Rechtsextremen zurückerobert, wenn man diese Worte unverkrampft verwendet.

Im konkreten Fall wird sich weisen, ob sich von der Leyen dem medial verstärkten Widerstand beugen wird. Vielleicht wäre es eine Lösung, die offizielle deutsche Bezeichnung aus ihren Leitlinien zu verwenden? „Schützen, was Europa ausmacht“ – dabei kann sich wohl jeder zu Hause fühlen.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com




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