„Systemsprenger“: So viel Kraft, so viel Schmerz

Wie Helena Zengel die neunjährige Benni mimt, nimmt einen mit. Im doppelten Sinn des Wortes.
Wie Helena Zengel die neunjährige Benni mimt, nimmt einen mit. Im doppelten Sinn des Wortes.(c) Ineo Film/Weydemann Bros./Yunus Roy Imer
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Der Film „Systemsprenger“ bricht einem das Herz. Im Mittelpunkt: eine Neunjährige, der keiner helfen kann. Pädagogen nicht, Sozialarbeiter nicht, die Mutter erst recht nicht.

Benni ist wieder einmal ausgerastet. Sie brüllt, sie spuckt, schlägt die anderen Kinder, niemand kann sie beruhigen, keiner dringt zu ihr durch, sie geht ganz und gar auf in ihrer Wut und Verzweiflung. Die Lehrer der Sonderschule wissen sich nicht mehr zu helfen und flüchten aus dem kleinen Spielplatz im Schulhof, wo sich das Drama abspielt, ins Innere – und sperren ab. Draußen tobt Benni weiter, schnappt sich eines der Bobbycars, die dort herumstehen, und schleudert ihn in Richtung Glastür. Einmal, zweimal. „Das ist Sicherheitsglas“, beruhigt ein Lehrer den anderen, doch einem dritten Versuch hält die Tür nicht mehr stand.

Splitterndes Glas: Diesem Bild vom Beginn wird man am Ende wieder begegnen, das manche Zuschauer wohl durch Tränen sehen werden. Denn dieser Film ist zum Teil unerträglich. Unerträglich, weil man ihm anmerkt, dass Regisseurin Nora Fingscheidt jahrelang recherchiert hat, dass sie dafür in Wohngemeinschaften gelebt, in Sonderschulen gearbeitet, dass sie Kinder in der Psychiatrie begleitet hat. Und dass die Geschichte deshalb nicht einfach eine Geschichte ist, die man beim Verlassen des Kinos abschütteln kann. Unerträglich auch, weil Helena Zengel als Benni einem gefährlich nahe kommt: so viel Wut, so viel Hass, aber auch so viel Kraft und Energie und Freude in einem so kleinen Körper! Helena Zengels Überschwang nimmt einen im doppelten Wortsinn mit.

Wie schön wäre es, gäbe es Schuldige

„Systemsprenger“ nennt man Kinder, die nicht zu bändigen sind, denen keiner helfen kann. Die tief verstört und aggressiv sind und niemanden an sich heranlassen. Sie können bei keiner Pflegefamilie bleiben, werden von Wohngruppe zu Wohngruppe weitergereicht, werden zwischendurch in Kliniken geparkt, wo sie im wesentlichen nur ruhiggestellt werden. Keine Schule will für sie die Verantwortung übernehmen. Zuweilen landen sie, weil das „System“ nicht weiß, wohin mit ihnen, in Einrichtungen für Erwachsene.

Nora Fingscheidt, die mit „Systemsprenger“ ihren ersten abendfüllenden Spielfilm gedreht hat, klagt niemanden an. Sie zeigt nur, was sie gesehen und erfahren hat. Die Mutter ist selbst instabil und steckt in einer Beziehung zu einem gewalttätigen Mann fest. Sie will das Richtige tun und macht das Falsche. Die Pädagogen, Sozialarbeiter, der Anti-Aggressions-Trainer, der Benni zur Seite gestellt wird – sie sind engagiert und agieren einfühlsam. Kann man ihnen vorwerfen, dass sie sich vor einer Neunjährigen fürchten, die auf dem Gipfel ihrer Wut schon einmal das Messer zückt? Auch die Vertreterin des Jugendamts bemüht sich redlich, sie kommt Benni noch am nächsten.

Ihnen allen unterlaufen Fehler. Kleine Fehler, größere Fehler, allzu menschliche Fehler. Doch klassische Schuldige gibt es hier nicht. Wie schön es doch wäre, jemandem die Verantwortung für dieses Versagen geben zu können! Das hieße ja, es gäbe eine Lösung. Aber vielleicht, das stellt zumindest dieser Film in den Raum, gibt es für einige Kinder keine Lösung. Vielleicht sind manche Wunden zu tief.

Immerhin: „Systemsprenger“ endet damit, dass Benni läuft. Sie läuft und läuft und läuft, immer schneller, der Freiheit, die sie meint, entgegen, und in diesem Moment ist sie glücklich. Das Schlussbild zeigt nicht nur splitterndes Glas, sondern auch ein Lächeln.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2019)

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