Der Premier sucht sein Heil in der Offensive. Er ging auf den Oppositionsführer zu und machte ihm ein Angebot zur Machtteilung in einer Großen Koalition. Die Netanjahu-Gegner setzen dagegen auf Zeit, um ihn loszuwerden.
Wien/Jerusalem. Benjamin Netanjahu war wie ausgewechselt. Von einem Tag auf den anderen schaltete Israels Premier von rabiatem Wahlkampfmodus auf den Gestus des Staatsmanns um, der Eigenschaften des Showman und das Geschick des mit allen Wassern gewaschenen Verhandlungsführers in sich vereint, wie ihn Israel und die Welt seit bald drei Jahrzehnten kennen.
Mit demonstrativem Lächeln und offenen Armen begrüßte Netanjahu am Herzlberg in Jerusalem seinen Rivalen Benny Gantz, als hätte er nicht die letzten neun Monate Wahlkampf gegen ihn geführt und den Ex-Generalstabschef ein ums andere Mal denunziert. Zuvor hatte er schon einen Appell an ihn gerichtet: „Benny, wir müssen eine breite Einheitsregierung aufstellen. Die Nation erwartet von uns, dass wir Verantwortung zeigen und zusammenarbeiten.“
Zum Gedenkakt für den vor drei Jahren verstorbenen Schimon Peres, einen der Staatsgründer, hatte Netanjahu sogar ein passendes Angebot parat. Warum nicht dem Vorbild von Peres – dem damaligen Labour-Chef – und Likud-Führer Jitzhak Schamir nacheifern, so lautete sein Vorschlag. Die beiden waren Mitte der 1980er-Jahre eine Große Koalition eingegangen und hatten sich im Rotationsprinzip im Amt des Premierministers und Außenministers abgewechselt. Das Zweckbündnis hielt immerhin die gesamte Legislaturperiode.
Netanjahus Vorstoß hat indes etwas von einem Verzweiflungsakt. Zunächst hatte die einst stolze, dezimierte Labour-Partei ein Koalitionsangebot des Langzeitpremiers abgelehnt. Dann schloss er die ultraorthodoxen und nationalkonservativen Parteien mit seinem Likud zu einem Block zusammen, um seinen Führungsanspruch zu unterstreichen. Nach Auszählung fast aller Stimmen hat das Oppositionsbündnis Blau-Weiß 33 Mandate errungen – gegenüber 31 für Netanjahus Likud. Und schließlich sagte der Premier seine Reise zur UN-Vollversammlung nach New York ab, die ihm stets eine willkommene Bühne war. Er muss einen Aufstand in den eigenen Reihen befürchten, und es gibt auch bereits erste Anzeichen einer Distanzierung.
Seine Gegner setzen auf den Faktor Zeit. Je länger sich die Koalitionsgespräche hinziehen und je mehr ein mögliches Korruptionsverfahren gegen Netanjahu in den Fokus rückt, desto mehr Likud-Abgeordnete könnten ihm in den Rücken fallen. Der Premier muss schnell agieren, und er muss die Meinungsführerschaft behaupten. Es ist die Zeit der taktischen Manöver.
Benny Gantz, in Naturell und Stil das Gegenteil von Netanjahu, ließ sich gar nicht auf dessen Vorschlag ein. Im Wahlkampf lautete sein Mantra, eine Koalition mit dem Likud nur ohne Netanjahu abzuschließen. Daran hat sich nichts geändert. Die Absage überließ Gantz übrigens einem langjährigen Netanjahu-Mitstreiter: Moshe Yalon, Ex-Generalstabschef, und mittlerweile Nummer drei in der Blau-Weiß-Allianz. „Wir werden in keine von Netanjahu geführte Koalition eintreten“, bekräftigte er.
Ruf nach Einheitsregierung
Währenddessen steigt der Druck in Richtung einer Regierung der nationalen Einheit mit möglichst breitem Charakter. In der Wahlnacht hat Benny Gantz als Erster die Forderung erhoben – und damit auch seinen Machtanspruch. Avigdor Lieberman, der Parteichef von Israel Beitenu und einer der Wahlsieger, der die Koalitionsgespräche mit Netanjahu im Frühsommer hatte platzen lassen, schloss sich ihm an. Auch die Chefs der neuen Rechts-außen-Partei Yamina, ehemalige Mitarbeiter Netanjahus, plädieren für eine Große Koalition und eine rasche Regierungsbildung. Sie streben allesamt Ministerposten an. Präsident Reuven Rivlin gilt ohnedies als Verfechter einer breiten Regierungsallianz. Der Premier ist mit seinem Vorstoß fürs Erste abgeblitzt. Am Donnerstag empfing Benjamin Netanjahu den US-Sonderbotschafter Jason Greenblatt, der demnächst aus dem Amt scheidet. Netanjahu hatte große Hoffnungen auf den mit ihm akkordierten Nahost-Friedensplan der Trump-Regierung gesetzt, der nun aber weiter auf sich warten lässt. Eine internationale Krise wie etwa um den Iran könnte ihm indes gelegen kommen, um als Chef einer Notstandsregierung weiter an der Macht zu bleiben. Zum Ende des Wahlkampfs hatte er noch versucht, mithilfe einer Militäroperation in Gaza zu punkten. Die Armeeführung machte Netanjahu jedoch einen Strich durch die Rechnung.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2019)