Tagebuch-Ich in der Kiste

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Wer zum Ende des Regenbogens gelangt, so erzählt man Kindern gern, findet dort eine Schatzkiste.

Wer zum Ende des Regenbogens gelangt, so erzählt man Kindern gern, findet dort eine Schatzkiste. Wer ganz weit hinten im alten Schreibtisch schaut, mitunter auch. Aus den tiefsten Tiefen unseres Schreibtischs haben wir neulich nämlich eine Schatztruhe geborgen. Konkret handelt es sich um eine Kiste aus dunkelbraunem Holz und elegant verzierten Scharnieren, die mit einem weniger eleganten handelsüblichen Vorhängeschloss versperrt ist. Und das schon ziemlich lang, habe ich die Kiste doch in meiner späten Jugend befüllt, versperrt und den Schlüssel dann so enorm gut versteckt, dass er bis heute nicht mehr aufgetaucht ist.

Unnötig zu erwähnen, dass eine derartige, fast märchenhaft anmutende Truhe die Fantasie des Kindes beflügelt, umso mehr, da sie nun prominent, aber immer noch genauso versperrt, in einem Ikea-Kastl thronen darf. „Aber was ist da jetzt drinnen?“, fragt das Kind vermutlich deshalb immer wieder aufs Neue, weil meine Antwort („Ein paar alte Tagebücher, glaube ich“) nicht spektakulär genug ist. Was da alles versteckt sein könnte! „Vielleicht ein großes Familienerbstück“, hofft das Kind (glaube nicht). „Ein Diadem“ (fix nicht) oder „ein früherer Piratenschatz“ (ein späterer jedenfalls nicht, das wüsste ich) oder auch „ein paar alte Marmeladegläser voller alter Marmelade“ (hoffe doch nicht).

Immer wieder habe ich im Lauf der Jahre überlegt, die Kiste zu öffnen, aber bis auf die brachiale Lösung – mit einer Axt einschlagen – ist mir kein Weg eingefallen. Vielleicht eh ganz gut, wenn man sich nicht mit seinem pubertären Tagebuch-Ich auseinandersetzen muss, das vermutlich hauptsächlich über Mathe-Lernen, Mathe-Schularbeiten und Mathe-Nachhilfe geklagt hat. Und dass die Tagebücher (und bestimmt auch das eine oder andere peinliche Foto) da drinnen verschlossen sind, hat auch Vorteile: Hätte es in meiner Jugend schon die sozialen Medien gegeben, hätte ich vermutlich alle diese nun in der Truhe versperrten Infos großzügig und unwiederbringlich im Internet verstreut. Jetzt sind sie unsichtbar in einer Kiste. Gemeinsam mit oder ohne Familienerbstück. Wer weiß?

E-Mails an: mirjam.marits@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2019)

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