Leitartikel

So schlecht war der Wahlkampf gar nicht

Auch wenn es auf den ersten Blick anders wirkt: In den vergangenen Wochen wurde durchaus zur Sache diskutiert. Dass dabei auch viel gestritten wurde, schadet nicht. Im Gegenteil.

Ibiza, Schreddern, Hacker-Angriff und die wichtige Frage, wer was geflüstert hat. Nein, „Sachpolitik“ ist nicht das Erste, was einem zu diesem Wahlkampf im Vorab-Rückblick einfällt. Aber Sachpolitik entscheidet ihn auch nicht.

Fragen Sie sich selbst: Worüber unterhalten Sie sich daheim auf der Couch nach einem TV-Duell? Darüber, wer die besseren Ideen hatte? Oder darüber, wer die besseren Treffer gelandet hat, wer mit wem konnte und wer generell sympathischer rüberkam? Berühren Sie Gesichter und Geschichten oder die Details der ökologisch-sozialen Steuerreform? Eben.

Und trotzdem war der Wahlkampf sachlicher, sachpolitischer, als es auf den ersten Blick wirkt: Zugegeben, in den vergangenen Wochen kamen zwar nicht alle wichtigen Fragen aufs Tapet. Doch es schafften Themen in die erste Reihe, die schon (zu) lang im Hintergrund gewartet haben. Neben – eh klar – dem Klima rückte die oft verdrängte Pflege in den Fokus. Ibiza rief die (noch immer) unbefriedigend geregelte Parteifinanzierung ins Gedächtnis. Und einem durch sein Ablaufdatum immunisierten Verteidigungsminister verdanken wir einen Einblick in die katastrophalen Finanzen des Bundesheers.

Und war es nicht angenehm, dass diesmal nicht wie 2017 wirklich alles und jedes durch die „Migrationsbrille“ angeblickt wurde, sondern die Themen für sich allein stehen durften? (Dass die Grünen alles und jedes durch den Klima-Filter betrachten – geschenkt.) Positiv ist auch, dass diese Themen mittlerweile einen Reifegrad erreicht haben, bei dem man sie nicht mehr ignorieren kann. Also egal welche Farbkombination herauskommt, eine Koalition der Überschriften darf und – hoffentlich – kann es nicht werden. Bei der Pflege wird man sich zu einer tragfähigen Finanzierungsform bekennen müssen. Ohne eine Ökologisierung des Steuersystems wird es nicht gehen, das sollte nicht nur Neos und Grünen klar sein. Und sofern an all den schönen Transparenzschwüren nur irgendetwas dran ist, kommt eine Reform der Parteienfinanzierung. Das ist nicht nichts. Und noch etwas war an diesem Wahlkampf auf den zweiten Blick nicht schlecht. Die Streitgespräche – obwohl mengenmäßig Publikum wie Kandidaten überfordernd – hatten ihr Gutes. In einem Land, in dem es für das Verhalten in Konfliktsituationen nur drei Aggregatzustände gibt – harmoniesüchtig, giftig oder grantig – , tut echter Streit not. Und ja: Streit, nicht der kühle Disput, der gesittete Austausch von Argumenten. Denn Emotion macht die Message Control löchrig, und Polemik lässt Unterschiede klarer hervortreten. Und um Letztere geht es ja in der Demokratie. Um die verschiedenen Optionen, Weltsichten, Gesellschaftsmodelle.

„Der Witz am Streit liegt genau darin, dass die vernünftigen Argumente nicht zählen – oder besser: dass sie erst hinterher zählen. Wenn der Streit verraucht ist“, lautet ein Satz, den ich aus einem Essay von „Hohe Luft“-Chefredakteur Thomas Vašek geborgt habe. Darauf, konkret auf den letzten Halbsatz, muss man für die Post-Wahl-Monate hoffen. Der Rest ist sowieso Beziehungsdrama.

ulrike.weiser@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2019)

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