Leitartikel

Johnson spielt in keiner realen Welt

Boris Johnson.
Boris Johnson.(c) APA/AFP/GETTY IMAGES/SPENCER PLA
  • Drucken

Der britische Premier wollte den Brexit mit einem Durchmarsch ins Ziel bringen. Geworden ist es ein Totalschaden für die politische Glaubwürdigkeit.

Boris Johnson hat noch vor 13 Jahren gegen Computerspiele gewettert. Sie seien für Ignoranz, Leistungsrückgang und Armut verantwortlich. Als Premierminister ist er freilich selbst in die Rolle eines „Fortnite“-Helden geschlüpft, der versucht, im eigenen Land so viel wie möglich an Beute zu machen, um damit eine Festung gegen EU-Zombies zu errichten. Mit Entschlossenheit, spielerischer Taktik und Kaltschnäuzigkeit hat er es angelegt. Das Problem daran ist nur, dass er mit seinem Durchmarsch offenbar den Bezug zur realen Welt verloren hat. Und das, obwohl die ersten Schäden seines Vorgehens schon Realität sind.

Seitdem er im Juli in Downing Street 10 eingezogen ist, hat er versucht, einen Freibrief für einen Hard-Brexit zu erhalten, das Parlament zu beurlauben, sofortige Neuwahlen auszurufen und den EU-Verhandlern Alternativen für den in seiner Partei ungeliebten Backstop (Klausel zum Schutz der offenen Grenze zwischen beiden Teilen Irlands) vorzulegen. Er scheiterte in jedem einzelnen dieser Schritte. Allein die Vorstellung, er könnte das alles in einem rasanten innen- und außenpolitischen Feldzug erreichen, zeugt von übersteigertem Selbstvertrauen. Boris Johnson hat versucht, den Parlamentarismus mit einer Zwangspause auszuschalten, die Queen über die wahren Hintergründe dieser Suspendierung zu belügen und jegliche rechtliche Basis seines Tuns – etwa in der Bindung an den Nordirland-Friedensvertrag – zu ignorieren. Geblieben sind ihm als populäre Begründung für dieses zweifelhafte Vorgehen nur die Gegner in Brüssel, gegen die jedes Mittel recht ist, und ein wenig auch die Opposition, die versucht hat, ihn zu bremsen.

Was hat Johnson mit seinen hyperaktiven Zügen, seinen umstrittenen Manövern angerichtet: ein Massaker an der Glaubwürdigkeit des politischen Systems und eine tiefe gesellschaftliche Kluft, die bis hinein in seine Partei und sogar in seine eigene Familie reicht. Freilich war der Tory-Chef dabei nicht allein. Neurotische Zündler wie Jacob Rees-Mogg oder Nigel Farage haben die Stimmungslage gemeinsam mit ihm verschärft. Und die größte Oppositionspartei, Labour, hat lieber ideologisch-taktisch laviert, als staatstragende Verantwortung zu übernehmen. Parteichef Jeremy Corbyn mit seinen überholten marxistischen Träumereien spaltete ähnlich wie Johnson lieber seine eigene Partei, als dass er bereit war, das fertig ausgehandelte EU-Austrittsabkommen mitzutragen. Er hätte es noch im Frühjahr dieses Jahres in der Hand gehabt, dass Theresa May mit ihrem trockenen Pragmatismus obsiegt und es nicht dazu kommt, dass ein von Spieltrieb geleiteter Premierminister ihr nachfolgt.

Ja, es gab einen Auftrag der Bevölkerungsmehrheit an die Regierung, den EU-Austritt voranzutreiben. Aber es ist ein großes Missverständnis, dass diese Referendumsentscheidung dazu legitimiert hätte, die repräsentative Demokratie auszuhebeln, Rechtsbrüche zu begehen und ein wirtschaftliches Chaos zu riskieren. Die Briten haben mit einer knappen Mehrheit von 52 Prozent für einen EU-Austritt gestimmt, sie stimmten nicht für einen ungeregelten Brexit.

Das andere große Missverständnis ist eines der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung eines Premierministers. Denn Johnson muss zwar die Mehrheit der EU-Gegner respektieren, doch ist er auch für jene 48 Prozent verantwortlich, die 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt haben. Wann hat der ehemalige Eton-Schüler in seiner zweimonatigen Amtszeit einen Kompromiss mit jenen gesucht, die sich als Europäer fühlen, die ihre eigene Zukunft in einer weiteren engen Zusammenarbeit mit anderen EU-Staaten sehen? Er hat in seiner Partei und im ganzen Land nur noch auf jene gesetzt, die einen radikalen Bruch wünschen.

Glaubt Boris Johnson wirklich, er hätte mehrere politische Leben, wenn er – wie nun vor dem Höchstgericht – an Hürden des Rechtsstaats scheitert? Manchmal entsteht der Eindruck, er rast mit eng sitzenden Scheuklappen hinauf in seine Festung und ist irritiert, dass der große Applaus der politischen „Fortnite“-Community ausbleibt.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

Mitreden

Boris Johnson will am 31. Oktober aus der EU austreten - „komme was wolle“. Diskutieren Sie mit: Wie soll es nun weitergehen? Wurde genug verhandelt? Und was wären die Folgen eines harten Brexit?

>>> zum Forum

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2019)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Irische Grenze
Leitartikel

Warum nur eine Grenzkontrolle, wenn man zwei haben kann?

Mit ihren jüngsten Brexit-Plänen führen die Briten ihr Versprechen von der offenen Grenze in Irland ad absurdum.
Johnson gab in seiner Rede nur wenige Details des neuen Vorschlags an die EU-Partner preis.
Brexit

Boris Johnson droht: Mein Brexit-Deal – oder gar kein Deal

Der Premierminister stellt zum Ende des Tory-Parteitags sein „letztes Angebot“ an die EU vor.
Conservative Party annual conference in Manchester
Großbritannien

Boris Johnsons „letztes Brexit-Angebot“ an die EU

Sein Vorschlag trudelte am Mittwoch in Brüssel ein. Nordirland soll quasi eine Sonderzone in der EU sein.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.