Bugatti: Der Tempomacher

Reifenplatzer bei 390 km/h? Berufsrisiko für Testfahrer Loris Bicocchi.

Was passiert wirklich, wenn dir bei 390 km/h der Reifen platzt? Und warum, zum Teufel, fährt man 390, wenn ein Reifen platzen könnte? Für Loris Bicocchi begann die Sache wie ein ganz normaler Arbeitstag. Wir befinden uns im Jahr 2002, und das Testteam von Bugatti hatte sich auf der süditalienischen Rennstrecke Nardò ausgebreitet. „Eigentlich waren es nur Motoren- und Getriebeingenieure“, erinnert sich Loris. „Es war ein Motortest, und das sogenannte Auto war nicht viel mehr als ein Aluminiumrahmen, der alles zusammenhielt“. Die Ingenieure wollten aber endlich aufs Ganze gehen, Vollgas war gefragt: Vorstoßen in den Bereich der geplanten Höchstgeschwindigkeit des Bugatti Veyron. Sie musste über 400 km/h liegen. Befehl von ganz oben.

Wer tatsächlich aufs Ganze gehen musste, war Loris. Das war sein Job, und es gab nichts, die Familie ausgenommen, was er mehr liebte als seinen Job. Das ist auch heute noch so: Loris Bicocchi, 61, ist einer der weltweit begehrtesten Testfahrer in der Spezialdisziplin Super- und Hypercars. Woraus wir schließen: Den 390-km/h-Crash hat der Mann irgendwie überstanden.

(c) Juergen Skarwan


Aber wie wird man professioneller Test- und Entwicklungsfahrer? Bei Loris hängt es mit dem Geburtsort zusammen: Sant’Agata Bolognese, ebenfalls die Heimat von Lamborghini. Damit war der Berufswunsch von Loris schon frühkindlich fixiert, oder sagen wir so: Ziel war, ans Steuer der Autos zu gelangen, und der kürzeste Weg dorthin würde, mangels Reichtums, über einen Job im Haus führen. Dass er nach der Schule bei Lamborghini zunächst im Lager die Regale schlichtete – ein kleiner Umweg. Ähnlich wie beim legendären Lambo-Testfahrer Valentino Balboni, dem in Anerkennung ein eigenes Modell gewidmet wurde, setzte sich Loris mit Beharrlichkeit durch, mit seiner allgemein gewinnenden Art und einem fahrerischen Talent, das Funken sprühte.



Die Funken ließ Loris auch an jenem Sonntagvormittag in Nardò sprühen, aber dazu später. Nach einigen Jahren als Lamborghini-Testfahrer unter Lehrmeister Balboni wurde Loris von einem gewissen Romano Artioli für ein geheimnisumwittertes Projekt engagiert: Die Entwicklung eines neuartigen Supercars, das alle Rekorde der Gattung in Grund und Boden fahren sollte. Artioli ließ Bugatti glanzvoll wiederauferstehen, und das Werk baute er in der Modeneser Gegend, wo Ferrari, Lamborghini, Maserati und wichtige Zulieferer verwurzelt sind – und auch Menschen wie Loris Bicocchi, die man für ein solches Unterfangen an Bord haben muss. „Alles war komplett neu am EB110“, schwärmt Loris heute noch, „Allradantrieb, Zwölfzylinder mit Fünfventiltechnik, vier Turbolader, ein Monocoque komplett aus Karbon!“

(c) Juergen Skarwan

Dass der EB110 tatsächlich zum herausragenden Supercar seiner Zeit wurde, in mancher Hinsicht heute noch nicht übertroffen, war auch dem unerschrockenen Loris zu verdanken. Seine Aufenthalte im Grenzbereich des Fahrzeugs lieferten die Rückschlüsse für das Team der Ingenieure, gleichwohl ob es sich um Motor, Chassis, Aufhängung, Bremsen oder Getriebe handelte. Bicocchis Sensorium und seine Fähigkeit, sich technisch verständlich zu machen – als Artioli schließlich mit Bugatti gescheitert war und Volkswagen die Namensrechte übernahm, gab es keinen anderen Mann, den man im Cockpit des neuen Projekts haben wollte. Das Auto hieß Veyron, über 1000 PS stark, Neuland selbst im schillernden Universum der Supercars.

(c) Juergen Skarwan


Und damit sind wir wieder in Nardò, der Höchstgeschwindigkeit nah, auf Michelin-Reifen, die noch nicht ganz zu Ende entwickelt sind – nicht für diese Tempobereiche. Und so kam es, wie es kommen musste: Rechts vorn platzt der Pneu, das Auto biegt rechts ab, knallt an die Leitschiene, wird zurückgeworfen, die Front in Trümmern, die Windschutzscheibe zersplittert, und rast als schnellste Havarie der Welt über die Piste, das Bremssystem: ausgefallen. Was Loris, halb benommen inmitten heftiger Rauchentwicklung, noch tun kann – Fahrschultechnik Materialbremsung!

Er zieht den Versuchsträger auf die linke Seite, wo er an der Leitplanke unter heftigem Funkenflug entlangschrammt – exakt 1800 Meter lang, wie das Personal der Rennstrecke später an beschädigter Leitplanke in Rechnung stellen wird.

Dass Loris die Tür aus dem Chassis treten musste, um vor dem großen Barbecue ins Freie zu gelangen – eine Fußnote; Loris schüttelte sich ab, blieb bei der Sache, entwickelte den Veyron zu Ende und später den Chiron. Dazwischen gründete er noch eine Nachwuchsakademie für Testfahrer – im etwas abgelegenen Nardò, mittlerweile in Modena – und half Supercars von ­Koenigsegg bis Pagani auf die Sprünge. Auch Österreichs einziges Auto, der KTM X-Bow, wurde mit Loris als Testfahrer entwickelt. „All diese Autos fahren zu dürfen . . .“, grübelt er, „ich hab den besten Job der Welt!“

(c) Juergen Skarwan

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