Film

Rudolf Nurejew: Ballett und Kalter Krieg

Als Neuankömmling an der staatlichen Ballettschule in Leningrad muss Rudolf Nurejew (Oleg Iwenko; an der Stange Mitte) um die Aufmerksamkeit des Lehrers Alexander Puschkin (Ralph Fiennes) buhlen.
Als Neuankömmling an der staatlichen Ballettschule in Leningrad muss Rudolf Nurejew (Oleg Iwenko; an der Stange Mitte) um die Aufmerksamkeit des Lehrers Alexander Puschkin (Ralph Fiennes) buhlen.(c) Larry Horricks
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Ralph Fiennes porträtiert in seinem Regiedebüt „The White Crow“ Tanzstar Nurejew – und das Sowjet-System der UdSSR.

Ganz kurz nur erhascht der kleine Rudik einen Blick auf den blank polierten, glitzernden Luster in der Oper. Noch nie ist der aus ärmsten Verhältnissen im entlegenen Baschkortostan stammende Bub in so einem schönen Haus gewesen. Der Glanz, die Atmosphäre, die Musik beeindrucken den Jungen. Die Mutter hat die Karte in der Lotterie gewonnen, einen einzigen Sitzplatz, und ihre Kinder kurzerhand alle mitgebracht. Für Rudolf Nurejew ist es wie eine Offenbarung. Dort will er hin. Und auch wenn die Voraussetzungen ungünstiger nicht sein könnten – Nurejew konnte erst mit 17 Jahren seine Ballettausbildung in Leningrad beginnen: Er tanzt sich mit Fleiß und an Starrsinnigkeit grenzendem Ehrgeiz auf die Bühnen der Welt und in die Herzen der Ballettfans.

Könnte leicht sein, dass dieser Film das überzogene Idealbild ein wenig entzaubert. Denn Rudik, wie ihn seine Freunde auch später noch nannten, war nicht nur ein fulminanter und sensibler Tänzer mit einem feinsinnigen Gespür für Kunst und Musik – er war, was das Publikum nie zu Gesicht bekam, ein eigenbrötlerischer Mensch, ein Sturschädel und Egomane. Faszinierend ist das allerdings auch, nur entspricht es nicht ganz der Vorstellung vom edlen (Bühnen-)Prinzen. „The White Crow“ nimmt schon im Titel Bezug auf seinen schwierigen Charakter: Die weiße Krähe steht für untypische, außergewöhnliche Menschen – und für einen Außenseiter.

Andererseits: Mit freundlicher Zurückhaltung oder gar Unterwürfigkeit hätte es Nurejew nie so weit gebracht – schon gar nicht in den Westen. Das ist der zweite inhaltliche Strang dieses Films, der kein Tanzfilm und nicht nur Biopic sein will, sondern von den Zuständen am Höhepunkt des Kalten Kriegs erzählt. Die Tentakel des politischen Systems reichten bis in jeden Winkel der UdSSR und hielten selbst kulturelle Einrichtungen wie die staatlichen Ballettinstitute fest im Griff. Der Staat zahlte die Ausbildung, dafür wurde absoluter Gehorsam gegenüber dem System eingefordert. Ein Gehorsam, den Nurejew letztlich verweigerte: Die Szene, in der er sich im Juni 1961 am Flughafen von Paris den russischen Aufpassern entreißt und um politisches Asyl ansucht, wird zum Herzschlagfinale. Obwohl jeder den Ausgang der Geschichte kennt.

Kindheit in frostigem Schwarz-Weiß

Ralph Fiennes („Der englische Patient“) führt hier zum ersten Mal Regie – und spielt Nurejews Lehrer und Mentor Alexander Puschkin mit unaufdringlicher Präsenz und ohne den Hang zum Drill, den man erwarten würde. Wer hier reüssieren will, muss von sich aus kämpfen. Malträtierte Füße gehören dazu. Fiennes hat ein feines Gespür für Stimmungen. Während die ärmliche Kindheit des Ballettstars in immer frostig wirkendem Schwarz-Weiß bleibt, ist das kommunistische Russland seiner Ballettschuljahre ein ockerstichiger Ort, an dem Vertreter des Systems im Trainingssaal sitzen und die Tänzer mit Glissades und Grands Jetés den Staub vom abgewetzten Holzboden wirbeln. Der ukrainische Balletttänzer Oleg Iwenko ist die Idealbesetzung: Er tanzt hervorragend und gibt Nurejew als sensiblen Künstler, aber herben Charakter. Das Paris der 1960er-Jahre vibriert und lockt den 23-Jährigen mit Lebenslust und mächtigen Kunsttempeln. Die Flucht aus der UdSSR bedeutete auch die Trennung von der Familie. Im Film nimmt's Nurejew gelassen: „Ich kann überall leben. Ich wurde in einem Zug geboren.“ Genauer gesagt – in der Transsibirischen Eisenbahn. Auch sie findet ihren Platz in diesem schönen Film.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2019)

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