Ein Salut für Stirling Moss

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In Tagen der Banalisierung des Motorsports durch zu viel Technik und Geld hat das Hochhalten einer Jahrhundert-Ikone einen ganz eigenen Luxus. Unser Held ist eben 90 geworden.

Der Führerschein des Stirling Moss war tatsächlich ein Symbol für „Willhaben“ in den 1950er- und 60er-Jahren. Daran rankten sich Legenden von Polizeistorys, die aber allesamt nur „kiddies stuff“ waren, und der für seine Selbstironie geliebte Star sagte ungefähr, wenn mir fad ist, fahr ich hundert (miles per hour) Richtung Heathrow, dann gibt’s ein Theater auf allen Titelseiten.

»Von der Gitarre eine Saite
Die Elvis schlug
Und den Verschluss der Bluse
Die die Lollo trug
Souvenirs, Souvenirs
Aus Paris und Cannes
Einen Hut von Chevalier
Und einen Brief vom dritten Mann
Von Ricky Nelson eine Pfeife
Von Stirling Moss den Führerschein
Souvenirs, Souvenirs
Kauft ihr, Leute, kauft sie ein . . .«

Bill Ramsey: „Souvenirs, Souvenirs“, 1959


In diesen Tagen indes: Ganz Racing Britannia und die Aficionados weltweit ließen Sir Stirling Moss zum 90. Geburtstag hochleben, Ehefrau Susie nahm sozusagen die Parade in Goodwood ab. Stirling himself hat sich vor zwei Jahren komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er ist also nicht wirklich fit, aber sein Schmäh, ließ Susie ausrichten, ist ungebrochen: „Er ist der witzigste junge Mann, den ich kenne.“

Von einem der misfortunes, die dem großen Mann in seinen mehreren Leben passierten, habe ich eine (schreckliche) räumliche Vorstellung, weil ich ihn – ups, wirklich?, ja: 1974 – daheim besuchen durfte. Das war in jenem seltsamen Haus, das als Beispiel für sein zweites großes Talent gilt, den Umgang mit alter Bausubstanz, auch unter erschwerten Bedingungen. Dieses Town House im ältesten Grätzel Londons, im schmalen Gässchen, in atmosphärischer Verdichtung des ganzen Mayfair-Zaubers, einen Steinwurf von Park Lane, wäre eigentlich zu schmal für irgendetwas, gefühlte drei Handtücher breit. Moss hat daraus ein Raumwunder in fünf Stockwerken geschaffen, schon damals mit Lift. Danach sorgte Brother-in-arms Frank Williams für einen Dachausbau und neuen Carbonfiber-Lift. Bloß gab es da eine blöde G’schicht’ vor ungefähr zehn Jahren: Stirling betrat den Lift im zweiten Stock, aber da war keine Kabine. Dieser Sturz trug natürlich zur jetzt eingeschränkten Fitness unseres Helden bei.

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Dazu muss man sagen, dass man sich mit Stirling, wenn man so halbwegs seine Wellenlänge fand, über jeden Blödsinn unterhalten konnte, also bleiben wir noch kurz bei dem Haus in Mayfair, das in den Einrichtungsmagazinen auch wegen der progressiven Klobrille so hochgelobt wurde. Ich konnte mir in der jugendlichen Neugier von damals die Frage nicht verkneifen, welche Erfahrungen er mit dem Leistungsmerkmal der beheizten Klobrille gewonnen habe.
Moss: „In der Zwischenzeit habe ich von einem bekannten Rennfahrer gehört, er ist Deutscher, der ließ seine Silberpokale einschmelzen und sich daraus eine Sitzgelegenheit machen, die mit durchlaufendem Warmwasser beheizt wird. Das halte ich für etwas übertrieben, erstens vom Drama her, aber auch von der Ökologie. Was ich seinerzeit erfunden habe, ist eine Klobrille mit 6-Volt-Heizdraht. Das kostet ziemlich genau einen Penny pro Monat – und hält dich warm. Wer das kennt, wird es nicht missen wollen.“ Das war ungefähr ein halbes Jahrhundert vor den (dann wohl auch weiterführenden) Errungenschaften in den Kabinetten unserer japanischen und koreanischen Freunde.

Stirling Moss kam aus einer motorsportbegeisterten Londoner Familie, fuhr erst einmal all diese seltsamen englischen Autos, er fuhr Cooper und HWM, Frazer Nash und Morris, Kieft-Norton und ERA, Sunbeam Talbot, Harford, BRM und BRP, Jaguar, Aston Martin, Connaught, Sunbeam Alpine, Bristol, Healey, Sprite, Ferguson, Vanwall und Lotus. Man fragt sich ja, warum die Engländer dann so plötzlich mit dem Autobauen aufgehört haben, aber das führt jetzt wirklich ein bissl zu weit.
Diese Affenliebe zu seinem Land war ja auch etwas ganz Besonderes an Stirling Moss. Im feierlichen Tonfall würden wir sagen: Es war eine große trotzige Gebärde Britanniens gegenüber der Welt, deswegen hat ihn die Queen mit Orden überschüttet, und so heißt er jetzt auch Sir Stirling, und seine Frau ist Lady Susie.

Als mit den englischen Autos nichts mehr weiterging, kaufte Moss mit seinen ersparten Preisgeldern einen Formel-1-Maserati (ja, das war damals möglich) und geriet ins internationale Rampenlicht.

Stirling Moss war 24, als er erkoren wurde. Mit einem leichteren Wort darf man sich den Vorgang nicht vorstellen, wenn Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer eine „dringdrahtliche Nachricht“, wie er es nannte (also ein Eiltelegramm, den Urgroßvater des Faxes), nach London schickte.
Motorsporthistorisch gesehen werden alle Grand-Prix-Siege und Sportwagenschlachten des Stirling Moss von einem Gipfelereignis überragt. Es war die Mille Miglia 1955 auf Mercedes 300 SLR.

Zwei Jahre vor ihrem abrupten und unvorhersehbaren Ende war die Mille Miglia auf einem unglaublichen Höhepunkt ihrer Popularität. So sehr Tollkühnheit und Vollgasartistik gefordert wurden, so brauchte man doch immense Erfahrung und Kenntnis, um die Tücken dieser 1600 Kilometer zu bewältigen. Dass einem jungen Spund von Engländer dies besser gelingen könnte als den italienischen Platzhirschen (Maglioli!, Castellotti!!, Taruffi!!!) oder Fangio auf der Höhe seines Ruhms, war absolut sagenhaft, imponierte den Italienern, entzückte die Welt und machte die Briten trunken.

Zweitens: Die Welt erfuhr, nach und nach, dass am Anfang dieses Sieges ein neuer kühner Gedanke gestanden war. Zwei Männer hatten eine Partnerschaft geschlossen, die ungefähr unter dem Titel stand: Mein Leben ist dein Leben. Der Partner im Irrwitz hieß Denis Jenkinson, nur Jenks genannt.

Moss und Jenks stimmten von Anfang an überein: Die Sache war (für junge Engländer) nur dann sinnvoll, wenn man ein Mittel fand, die Ortskenntnis und Erfahrung der Italiener zu kompensieren.
Nun existierte der Begriff pace notes bereits, etwa im Sinn von Gefahrenhinweisen. Moss und Jenks stellten sich aber was Tiefergehendes vor, viel intensiver, radikaler. Jenks machte Aufzeichnungen, Moss ließ sie in seinem Büro abtippen und zu einer sauberen Mappe verarbeiten. Es war sinnlos, das Zeug konnte nur leben mit Jenks’ Skizzen und Zeichen und Symbolen, seiner ganz eigenen Sprache, die sonst kein Mensch lesen oder verstehen konnte. Also übertrug er selbst die Aufzeichnungen, viele Stunden auf den Knien, vor sich eine endlose Rolle Papier.

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Mercedes baute im Trainingsauto eine Bordsprechanlage ein, und Jenks begann vorzulesen. Die Sache funktionierte, bis Moss immer schneller und schneller fuhr und plötzlich taub war. Er hörte die Ansage nicht mehr, und dies gerade in einem Moment höchster Gefahr.
Ein Arzt, der Raumfahrttests mit Piloten machte, hatte Ähnliches erlebt: Der Mensch hat im äußersten Überlebenskampf die Gabe, seine momentan wichtigste Fähigkeit auf Kosten der anderen Sinne zu erweitern: Du kannst rennen jenseits deiner Kräfte, ohne was zu spüren, und wenn dein Leben von deinen Augen abhängt, wird deine Sicht geschärft bis zu jenem Extrem, dass dich das Gehör verlässt.
Also schmiss man den Bordfunk raus und übersetzte die Aufzeichnungen auf Handsignale. Aus etwa 15 Handzeichen setzte Jenks eine Sprache zusammen, die Moss in jeder Lage sofort aufnehmen und umsetzen konnte. Moss hatte unglaublich gute Augen, und er konnte in der Tiefe wie in der Breite fantastisch sehen, und Jenks würde seine Signale genau in den richtigen Teil des Blickfelds setzen, ohne sich deswegen großartig verrenken zu müssen.

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In der Endfassung ergaben die Aufzeichnungen eine Papierrolle von fünfeinhalb Meter Länge, die sich in einem eigens dafür konstruierten Aluminiumkästchen unterbringen und durch einen Rollenmechanismus abwickeln ließ.

Das war aber erst die Hälfte der Aktion. Das offene Feld für Vernunft und Emotion: Wie weit sollte man im gegenseitigen Vertrauen gehen? Es war ja nicht irgendein Rennen oder irgendeine Rallye, wo du dir bei einem Unfall auch sehr weh tun kannst, sondern es war einfach das gefährlichste Straßenrennen aller Zeiten, durch Städte und Dörfer und Zuschauermassen, über blinde Kuppen, über die ein SLR mit ausgedrehten 7500/min mit Tempo 280 fliegen würde, falls der Mann am Gaspedal die Unerschütterlichkeit des Glaubens hatte: Wenn Jenks VOLL sagt, dann ist es VOLL.

»Kein Comeback: Die verlorene Leichtigkeit des Rennfahrens.«



Es gab 521 Starter, die ab den Abendstunden des 1. Mai in Brescia abgelassen wurden. Startzeit für Moss/Jenkinson war der Morgen des 2. Mai um 7.22 Uhr (daher Startnummer 722). Hauptgegner waren drei weitere Mercedes (darunter Juan Manuel Fangio), Ferrari, Maserati und Aston Martin.

Der Mercedes 300 SLR hatte 290 PS und war auf eine Spitze von 272  km/h bei 7500/min im fünften Gang ausgelegt. Die Strecke war 1.606 km lang, Brescia–Pescara–Rom–Florenz–Bologna–Brescia.
Moss/Jenkinson siegten in 10:07:48 Stunden, mehr als eine halbe Stunde Vorsprung auf Fangio. Der Schnitt (über alles, mit Tanken, durch die Dörfer, durch die Städte) war 157,65 km/h, natürlich ewige Bestmarke für die Mille Miglia.

Da war dann noch die Sache mit Fangios Pillen.
Der berühmte väterliche argentinische Teamkollege hatte Moss und Jenkinson Pillen gegeben, für extra Stamina und Durchhalten. Später erzählte Fangio, es habe sich um ganz natürliches Zeug gehandelt, vielleicht aus der Indianertradition, das Wichtigste sei der Glaube. Wie auch immer: Moss (ebenso wie Fangio) hatte die Pillen genommen, Jenkinson nicht. Am Abend nach dem Rennen gab es Feiern beim Mercedes-Team und bei Graf Maggi. Jenks ging danach schlafen, Moss setzte sich um zwei Uhr Nacht in sein Dienstauto, allein. Er war zum Frühstück in Stuttgart.

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Stirling Moss gewann 16 Große Preise (auf Mercedes, Maserati, Cooper, Lotus), wurde viermal Zweiter in der WM und insgesamt der erfolgreichste Formel-1-Fahrer, der nie Weltmeister wurde.
Bei einem Unfall in Goodwood 1962 wurde Moss schwer verletzt. Er brauchte über ein Jahr, um wieder ordentlich auf die Beine zu kommen. Ein Comebackversuch verlief durchaus vielversprechend, aber Moss sagte, er habe die Leichtigkeit des Rennfahrens verloren. Er werde sie wohl nie wieder zurückgewinnen. Das bedeutete seinen Rücktritt.
Eine der dringlichen Fragen, die ein Reporter dem großen Stirling Moss einfach stellen musste, war: Warum hatte sich nie die Traumpaarung Moss auf Ferrari ergeben?

Moss: „Manieren waren nicht die große Stärke von Enzo Ferrari, man weiß das ja. Jedenfalls habe ich mich 1951, als junges Talent, von ihm beleidigt gefühlt und meinen Trotz über die Jahre durchgezogen. Enzo Ferrari hat dann aber eingelenkt, wir haben immer mehr Respekt füreinander gewonnen. Schließlich hat er mir das großzügigste Angebot gemacht, dessen er fähig sein konnte: Er war bereit, auf Ferrari-Rot zu verzichten, ich sollte in den britischen Rennfarben antreten dürfen. Alles war perfekt, und es wäre wohl fantastisch geworden – aber genau dann kam mein Unfall ­dazwischen. So bleibt nur die Fantasie, wie das mit uns geworden wäre.“

(c) Mirjam Reither

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