Die Rose Moldawiens

Frühlingshafte Lebendigkeit und der Tod liegen nahe beisammen, nicht nur in Moldawien.

BIMAIL VON Dominik MArkl SJTrandafir de la Moldova“, so beginnt ein moldawisches Volkslied, „Rose Moldawiens, ich möchte dich lieben!“ Das Lied charakterisiert treffend die Anmut des Landes und der Menschen, die in ihm leben. Das hügelige Moldawien blüht im Mai wie ein einziger Obstgarten, und die Duftwolken der Lindenalleen, der Kastanien und Weinberge werden von jener leichten Brise durchs Land getragen, die vom idyllischen Flusstal des Nistru ausgeht. Sinnlichkeit liegt in der Luft, junge Pärchen sitzen unter Trauerweiden an den Ufern der Teiche, und gäbe es da nicht auch die grausamen Seiten der Republik Moldau, man könnte für einige Augenblicke meinen, Gott habe vergessen, ihre Bewohner aus dem Paradies zu vertreiben.

Die Rose Moldawiens lernte ich in der heurigen Karwoche kennen. Sie heißt Irina und lebt in Valeni, einem der ursprünglich gebliebenen Dörfer ganz im Süden. Sie arbeitet im Concordia-Sozialzentrum, das im letzten Jahr erbaut wurde, und besucht regelmäßig jene Menschen, die am dringendsten Hilfe brauchen. Sie führt mich mit Freunden zu zwei über achtzigjährigen Schwestern, die gemeinsam in einem kleinen, modrigen Raum leben und kaum mehr aufstehen können. Eine von ihnen heißt Vesela, „die Fröhliche“, und sie macht ihrem Namen alle Ehre, da sie auch die fremden Besucher lachend vor Freude umarmt und küsst. Erschreckende materielle Armut und ein Paradies der Menschlichkeit zugleich. Bald muss Irina weiter, um einer Familie mit drei kleinen Kindern Lebensmittel zu bringen. Wir kommen im schwersten Augenblick. Der Vater wurde in der vergangenen Nacht mit solcher Härte niedergeschlagen, dass er jetzt im Krankenhaus ums Überleben kämpft.

Irina könnte mit ihren Sprachkenntnissen ihr Glück im Ausland versuchen – wie ein Drittel ihrer Landsleute. Doch sie bleibt, weil sie an ihre Familie glaubt, ihr Dorf und ihr Land. Sie hat jene Glaubensstärke, von der Jesus sagt: „Wer an mich glaubt, wird leben, selbst wenn er stirbt.“ Diesen inneren Mut, der die Grenzen des vernünftig noch Erträglichen überwindet, vermittelt auch der Prophet Jesaja, wenn er dem König in schwerer Kriegsgefahr sagt: „Behüte dich, sei ruhig, fürchte dich nicht, dein Herz verzage nicht“ und in hebräischem Reim „im lo ta'aminu ki lo te'amenu“ – „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht überstehen“ (Jes 7). An der Grenze des Erträglichen steht auch die Beterin in Psalm 27: „Was wäre, wenn ich nicht ganz fest vertrauen könnte, dass ich die Güte Gottes sehen darf im Land der Lebendigen! Hoffe auf den Herrn und sei stark! Hab festen Mut und hoffe auf den Herrn!“

Zurückgekehrt aus Moldawien, haben mich meine kleinen mitteleuropäischen Sorgen bald wieder eingeholt. Aber der Duft der Kastanien erinnert mich an das kleine Paradies mit seinen Rosen, an Vesela, Irina und die Kinder. Tiefer atme ich jetzt den Frühling ein, um Glaubenskraft zu tanken. Was lässt mich glauben, auch angesichts des Sterbens?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2010)

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