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Die Massen gegen Volkswagen

Beim Mammutprozess in Braunschweig fordern VW-Fahrer Schadenersatz, darunter auch 1000 aus Österreich.
Beim Mammutprozess in Braunschweig fordern VW-Fahrer Schadenersatz, darunter auch 1000 aus Österreich.(c) REUTERS (MICHELE TANTUSSI)
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Mehr als 400.000 Kläger wollen vom Autokonzern Schadenersatz: In Braunschweig hat am Montag der große juristische Showdown im Dieselskandal begonnen.

Berlin/Braunschweig. Über dem niedersächsischen Braunschweig ist am Montag ein Sturm aufgezogen. Draußen tobte also ein Unwetter, während in der Stadthalle der erste Teil des großen Showdowns zwischen „Volkswagen und dem Volk“ in Szene ging, wie das der „Tagesspiegel“ zugespitzt formulierte.

Denn der Saal in Braunschweig wurde zur Kulisse für den Auftakt eines Mammutprozesses, über den Reporter aus aller Welt berichteten. Weil sich das Verfahren um einen der größten Skandale in der deutschen Wirtschaftsgeschichte dreht, also um den Abgasbetrug, der sich zu einem guten Teil im 25 Kilometer entfernten Wolfsburg, am VW-Stammsitz, zugetragen hat. Weil die Anwälte in Braunschweig rund 470.000 geprellte Dieselfahrer vertreten. Und weil der Prozess juristisches Neuland ist, ein Experiment mit offenem Ausgang: Zum ersten Mal kommt die sogenannte Musterfeststellungsklage zur Anwendung, die eine Lex VW ist.
Denn viele VW-Kunden ohne Rechtsschutzversicherung scheuten das Risiko einer Einzelklage. Ihre Fälle drohten zu verjähren. Die Große Koalition führte deshalb die Musterfeststellungsklage ein, die für die Kläger zunächst kosten- und risikolos ist. Man musste sich nur in ein Register eintragen. Auch rund 1000 Österreicher haben das getan.
Die Fronten sind in diesem Rechtsstreit klar bezogen: VW vertritt die Position, dass den Kunden durch den Abgasskandal kein Schaden entstanden sei. Die Autos würden genutzt und seien technisch sicher. Zudem hätten die meisten Pkw ein Software-Update bekommen. Die Klägerseite hält dagegen, dass der größte Autobauer der Welt seine Kunden vorsätzlich und sittenwidrig getäuscht und damit auch geschädigt habe, weil beispielsweise die Fahrzeuge nach Bekanntwerden des Skandals an Wert verloren haben.

Hoffnungen auf Vergleich

Eine Nachricht von der anderen Seite der Welt nährt sanfte Hoffnungen auf eine Einigung der Streitparteien. Denn in Australien hat Volkswagen einem Vergleich zugestimmt. Im Schnitt sollen geprellte Dieselfahrer dort mit rund 870 Euro entschädigt werden. VW erklärte freilich, dass die Dinge in Deutschland anders lägen und ein solcher Vergleich „kaum vorstellbar“ sei. Und die Verbraucherschützer halten knapp 900 Euro wie in Australien für zu wenig. Aber natürlich taktieren beide Seiten. Der vorsitzende Richter regte am Montag eine Einigung an: „Ein Vergleich ist sehr schwer, aber möglich.“ Aus VW-Sicht spricht dafür, dass man das Thema nicht über viele Jahre mitschleppen müsste.

Prozess würde Jahre dauern

„Ein außergerichtlicher Vergleich wäre im dringenden Interesse der Verbraucher“, sagt auch Lydia Ninz vom Verbraucherschutzverein VSV zur „Presse“, die gemeinsam mit Obmann Peter Kolba den Prozessauftakt in Braunschweig beobachtete, während andere wegen der Unwetter den ersten Verhandlungstag verpassten. Allein 1100 Österreicher und Südtiroler haben sich mithilfe des VSV der Klage angeschlossen.
Ohne Vergleich könnte viel Zeit verstreichen, bevor VW-Kunden nur einen Cent sehen. Denn mit einem Urteil wird erst in zwei Jahren gerechnet. Frühestens. Und danach dürfte die Verliererseite vor den Bundesgerichtshof ziehen. Im Fall eines Siegs der Verbraucher müsste dann noch jeder einzeln Schadenersatz einklagen. Denn das Gericht stellt im Musterverfahren zwar bindend fest, ob den Klägern ein Schaden entstanden ist, aber nicht, wie viel Schadenersatz dem Einzelnen zusteht.
Übrigens hegt das Gericht Zweifel, ob die Bindungswirkung des Verfahrens auch ausländischen VW-Kunden zukommt. „Es gibt aber gute Argumente, dass auch für Österreicher deutsches Recht gilt“, sagt Kolba vom VSV.
Kurze Rückblende: Im Kern geht es in diesem Prozess um Diesel-Pkw der Marken VW, Seat, ?koda und Audi, in die Motoren des Typs EA 189 verbaut sind und die mit einer „Schummel-Software“ ausgestattet waren. Diese Abschalteinrichtung erkennt, wenn das Auto auf dem Prüfstand steht. Im Straßenbetrieb schaltet sich die Abgasreinigung ab. Der Skandal flog 2015 in den USA auf. Längst beschäftigt er auch deutsche Strafgerichte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2019)

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