Die Vorstellungen des britischen Regierungschefs vom EU-Austritt ergeben keinen Sinn. Dieser Brexit hat weder Hand noch Fuß.
„Es lebt!!!" Diesen Jubelschrei kenn man aus Horrorfilmen der alten Schule, in denen ein verrückter Professor eine Kreatur bastelt, sie mittels Stromstoß reanimiert – und anschließend die Kontrolle über seine Schöpfung verliert. Wäre Viktor Frankenstein, der Ahnvater des Genres, heute am Leben, dann wäre er nicht Wissenschaftler, sondern Politiker. Und er würde in seinem Labor nicht frisch ausgegrabene Leichenteile, sondern gut abgehangene Versatzstücke linker und rechter, liberaler und autoritärer Parteiprogramme zusammenflicken.
Womit wir beim britischen Premierminister Boris Johnson wären, dem Schöpfer des Brexit-Monsters. Dieses inkohärente Fabelwesen steht für eine von Bürokratie befreite Wirtschaft – und zugleich die weltweit höchsten Mindestlöhne; ein globales Britannien – aber ohne lästige Ausländer; soziale Wohltaten – und balancierte Budgets; freien Handel mit der EU – bei gleichzeitiger Nichteinhaltung der europäischen Spielregeln; die Renaissance der repräsentativen Demokratie – bei der nicht gewählte Abgeordnete, sondern skrupellose Demagogen das Sagen haben.
Boris Johnsons Brexit ergibt keinen Sinn, er hat weder Hand noch Fuß. Stattdessen rollt er wie eine Dampfwalze durch die politische Kulturlandschaft Großbritanniens und lässt eine Schneise der Verwüstung hinter sich. Dass Professor Boris Frankenstein seine Schöpfung unter Kontrolle hat, glauben zum jetzigen Zeitpunkt vermutlich nicht einmal seine ergebensten Laboranten.
Mitreden
Boris Johnson will am 31. Oktober aus der EU austreten - „komme was wolle“. Diskutieren Sie mit: Wie soll es nun weitergehen? Wurde genug verhandelt? Und was wären die Folgen eines harten Brexit?
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2019)