Reportage

Katalonien: „Jeder könnte morgen dran sein“

Gedenken an das Referendum: Separatisten demonstrieren in Girona. Madrid fürchtet, dass die Bewegung gewalttätig wird.
Gedenken an das Referendum: Separatisten demonstrieren in Girona. Madrid fürchtet, dass die Bewegung gewalttätig wird.(c) REUTERS (ALBERT GEA)
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Zwei Jahre nach dem Unabhängigkeitsreferendum wachsen die Spannungen: Madrid fürchtet, dass der Separatismus gewalttätig wird. Katalanen gehen auf die Straße. Eine Reportage.

Vor dem Rathaus in Sabadell wird es um 20 Uhr enger. Fröhliche Musik erfüllt den Platz. Dicht vor dem Rathaus bleibt ein großer Kreis frei, in dessen Mitte ein Tisch steht. Dahinter liegt auf dem Boden sorgfältig ausgebreitet ein 25 Meter langes Transparent. Erst als eine Gruppe das Transparent aufhebt, wird auch für Nichteingeweihte klar, dass es sich hier um keine spätsommerliche Kulturveranstaltung handelt: „Freiheit für die Verhafteten. Repression wird uns nicht stoppen“, steht neben einem Bild von explodierenden Handschellen.

Sprengstoff und Terrorpläne

Mit den Eingesperrten sind diesmal nicht die katalanischen Politiker gemeint, die seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzen. Vergangene Woche führte Spaniens Polizei in Katalonien in einer großen Aktion, an der 500 Beamte beteiligt waren, mehrere Hausdurchsuchungen durch und verhaftete neun Personen, vier in Sabadell, einem Vorort von Barcelona. Zwei wurden wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Anklage lautet auf Terrorismus. Neben Festplatten und Dokumenten wurde Material zur Sprengstoffherstellung beschlagnahmt. Die Verhafteten gehören den CDR an, „Komitees zur Verteidigung der Republik“. Laut Staatsanwaltschaft sollen sie gewalttätige Aktionen geplant haben.

In Sabadell setzen sich drei junge Frauen an den Tisch, ohne sich vorzustellen. Die Frau in der Mitte verliest eine Erklärung der Angehörigen der Verhafteten. Immer wieder unterbricht sie ihre Rede, um Tränen zu unterdrücken. „Am Montag haben sie viele Personen mitgenommen; ihre Handys voller besorgniserregender Nachrichten. ,Hörst du die Hubschrauber? Was ist da los? Hast du was von deinem Bruder gehört?‘ Die Hubschrauber, die über unseren Städten, unseren Dörfern kreisten, sind gekommen, um uns zu holen. Wir sind von 500 Beamten der Guardia Civil überfallen worden.“ Aus den hinteren Reihen ist ein Ruf zu hören: „Viva España!“ Die Menge regt sich auf, bis die einen die anderen beruhigen. „Die Unabhängigkeitsbewegung ist nicht Terrorismus“, schließt die junge Frau unter tosendem Applaus ab.

Zwei Verhaftete sagten indes aus, Material für die Herstellung von Sprengstoff gekauft zu haben. Laut Medien sollen sie den Sprengstoff selbst erzeugt und in einem Steinbruch getestet haben. Täglich sickern Details aus dem unter Verschluss gehaltenen Ermittlungsbericht des Richters heraus.

Sezessionisten demonstrieren

Am Montag hätten die Verhafteten das katalanische Parlament besetzen und strategische Telekommunikationsinfrastruktur lahmlegen wollen. Das gestrige Datum hat eine große symbolische Bedeutung für die Unabhängigkeitsbewegung: Vor genau zwei Jahren fand in Katalonien das von Madrid verbotene Unabhängigkeitsreferendum statt. In der Folge wurde die Autonomie zeitweise aufgehoben sowie sezessionistische Politiker und Aktivisten festgenommen. Die Spannungen sind weiterhin groß: In ganz Katalonien demonstrierten am Dienstag unter enormem Polizeiaufgebot Separatisten, um an die Abstimmung zu erinnern. Sezessionisten bewarfen Polizisten mit Eiern.

Während Polizei und Justiz glauben, es mit einer Terrorgruppe im Embryonalstadium zu tun zu haben, sieht die katalanische Regionalregierung in den Verhaftungen einen weiteren Beweis für Repression. „Ich werde niemals zulassen, die radikal demokratische Unabhängigkeitsbewegung mit Terror in Verbindung zu bringen“, schreibt Regionalpräsident Quim Torra in einem Tweet. Die Verhaftungen hätten das Ziel, die Unabhängigkeitsbewegung zu kriminalisieren, so der Tenor der Unabhängigkeitsbefürworter. Spaniens Präsident, Pedro Sánchez, entgegnete, dass Torra die Kriminalisierung einfach vermeiden könne, indem er potenzielle Gewaltanwendung aus dem Umfeld von Unabhängigkeitsbefürwortern verurteile.

Radikale Splittergruppe

Die CDR sind lokale Bürgergruppen, die vor dem Referendum vom 1. Oktober 2017 entstanden sind. Ihre Aufgabe war, die Abstimmung zu ermöglichen, etwa durch Besetzung von Wahllokalen. Seither beteiligten sich CDR-Aktivisten maßgeblich an Protesten. Schätzungen gehen von rund 250 Komitees landesweit aus. Die Aktivisten kommen aus verschiedenen Schichten, Altersgruppen und können keiner Partei zugeordnet werden.

Maria Soler, 71, aus Sabadell ist im CDR ihres Viertels aktiv. „Seit Juli stellen wir uns jeden Tag vor das Rathaus, um für die Freilassung unserer Politiker zu protestieren“, sagt die Pensionistin. Sie ist überzeugt, dass die Verhaftungen keine Basis haben. „Jeder von uns könnte morgen dran sein“, sagt Soler, die einen der Eingesperrten gut kennt.

Medien berichten unter Berufung auf den geheimen Ermittlungsakt, dass die neun Angeklagten eine radikale Splittergruppe gebildet hätten, die als „Taktisches Reaktionsteam“ bezeichnet wird. Zudem gebe es Hinweise auf geheime Kontakte zwischen der radikalen Gruppe, Torra und seinem Vorgänger im Exil, Carles Puigdemont.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2019)

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