Gastkommentar

Naziverbrechen: Die Täter von Hartheim und was wir sind

(c) Peter Kufner
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30.000 Menschen, darunter vor allem Psychiatriepatienten und behinderte Menschen, wurden 1940/41 im Schloss Hartheim ermordet. Der Rektor der Linzer Kepler-Uni erinnert in seiner Gedenkrede an die Voraussetzungen dieser Massenmorde.

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Wie gedenkt man der 30.000 Opfer von Hartheim? Wie erinnert man sich an ein solches Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Wie entzieht man sich zugleich dem lauen Nie-wieder-Ritual? Vielleicht, indem man sich den Gang eines Opfers in die Gaskammer vergegenwärtigt. Denken wir an den kleinen Seppi, bei dem es Probleme bei der Geburt gab. Seppi war bei allem etwas langsamer. Zu langsam. Daher wurde er 1940 nach Hartheim gebracht.

Er musste das Schloss durch einen schmalen Seiteneingang betreten, dann ging es den mit Brettern verschlagenen Arkadengang entlang bis in den Auskleideraum und danach in den Untersuchungsraum. Hier traf Seppi auf seinen Arzt. Da stand die Diagnose „unwertes Leben“ längst fest. Dann wurde es ernst. Es ging durch eine niedrige, schmale Stahltüre in eine gekachelte Kammer, kaum größer als 20 m2. Drei Duschköpfe wollten den Eindruck eines Duschraums erwecken. Und schon schloss sich die Türe hinter den dicht gedrängten nackten Menschen. Seppi tat, was er immer tat, wenn er verängstigt war. Er hielt sich die kleinen Hände vor seine Augen. Im angrenzenden Technikraum öffnete der Arzt das Ventil an der Gasflasche. Es dauerte 15 Minuten, bis alle 60 Menschen tot waren. „Gnadentod“ hieß das.

Seppis noch junges Leben wich zu weit ab von der Norm, vom deutschen Ideal. So wie das der anderen 30.000 Menschen, die hier im Schloss, hier in unserer Heimat den Weg in die Gaskammer antreten mussten. Die Schergen von Hartheim haben darüber penibel Buch geführt. Bis auf die letzte Reichsmark genau haben sie berechnet, was sie durch ihre Taten der Volksgemeinschaft an künftigem Aufwand erspart haben. Das „unwerte“ Leben als Kostenfaktor.

„Der Weg zur Barbarei der NS-Zeit besteht aus unzählig vielen und winzig kleinen Schritten“, sagte Michael Köhlmeier in einer Rede. Um uns zu verdeutlichen, warum wir uns mit den Tätern von Mauthausen und Hartheim vergleichen sollen, ohne uns gleichzusetzen. Achten wir also auf die winzig kleinen und weniger kleinen Schritte, die wir heute tun. Fragen wir mit Köhlmeier, ob diese Schritte in eine ähnliche Richtung weisen, auch wenn wir von der Barbarei von Hartheim weit entfernt sind. Machen wir uns bewusst, was die Voraussetzungen der Massenmorde waren: ein bedingungsloser Autoritätsglaube und die Entmenschlichung der Opfer.

Hasspostings und „Einzelfälle“

Und wie ist es heute? Der Ruf nach Autorität wird auch in Europa immer lauter, der Zuspruch, den Populisten finden anstelle des mühseligen Aushandelns konträrer Positionen, wird größer. Noch schwerer wiegt, wie unser humanes Menschenbild, eine Errungenschaft der Aufklärung, einmal mehr ins Rutschen gerät. Dramatisches Anschauungsmaterial dafür sind die unzähligen Hasspostings im Internet. Aber auch die österreichische Innenpolitik lässt immer wieder tief blicken. Man denke nur an all die Worte und Taten, die als „Einzelfälle“ bezeichnet wurden.

Postings und „Einzelfälle“, die eines gemein haben: Die Sprache schafft eine gefährliche Distanz, würdigt eine Gruppe von Menschen herab, lässt kaum eine Empathie aufkommen. Es sind hassgetriebene Aussagen. Der Hass überlagert das Gewissen, überlagert unser Menschsein. Es sei das Gewissen, das unsere Identität prägt, schrieb der Soziologe Niklas Luhmann. Das Verhalten der Täter von Hartheim sagt daher etwas darüber aus, was sie als Menschen waren. Dann sagt aber auch unser heutiger Umgang mit Schutzbedürftigen etwas darüber aus, was wir als Menschen sind.

Dieser Umgang ist meist geprägt von einer intuitiven Zurückhaltung und einer großen Distanz. Unsere in Sozialleistungen gegossene Zuwendung fließt in Bereiche, die wir gern verdrängen. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Kommt es hier zu Kürzungen, melden sich oft nur die karitativen Organisationen zu Wort, denen aber zunehmend auch ein rauerer Wind entgegenweht. Ich erinnere hier nur an das Dictum eines Partei-Generalsekretärs, der der Caritas unter anderem „Profitgier“ vorwarf.

Durch all das wird ein Kreislauf ausgelöst, den man sich gerade beim Hartheim-Gedenken kaum anzusprechen traut und den man doch ansprechen muss. Unser Umgang mit beeinträchtigten Menschen ermutigt werdende Eltern kaum, ein Kind mit Behinderung zur Welt zu bringen. Angesprochen ist damit zugleich die Routine der Pränataldiagnostik. In den allermeisten Fällen dient diese Diagnostik allein dazu, die Eltern mit der recht verlässlichen Prognose zu beruhigen, dass sie ein gesundes Kind zur Welt bringen werden. Was aber, wenn pränatal eine Behinderung oder auch nur eine mögliche Behinderung diagnostiziert wird? Die Eltern müssen innerhalb weniger Tage eine der schwierigsten Entscheidungen überhaupt treffen. Der Gesetzgeber hat die Entscheidung aus gutem Grund der Mutter überantwortet und sie doch zugleich unvermeidlich überfordert. Wer denkt daran, dass Embryonen in der 13. Woche bereits zu groß sind für eine Ausschabung? Dann muss bei einem Abbruch das Kind nicht selten mit einer Giftspritze getötet und tot zur Welt gebracht werden.

Wie gesagt: Natürlich soll eine betroffene Mutter selbstbestimmt höchstpersönlich entscheiden. Eine humane Gesellschaft muss aber alles dafür tun, dass diese Entscheidung auf Grundlage bestmöglicher Information und ohne sozialen Druck fällt. Womit wir wieder bei der Frage sind, wie wir mit beeinträchtigten Menschen umgehen.

Vermeidbares Leben?

Betroffene Eltern berichten, das beeinträchtigte Kinder als vermeidbare oder unvermeidbare Pannen der Hochleistungsmedizin angesehen werden. Einen noch schlimmeren Eindruck hinterließ der Tweet einer liberalen Bundestagspartei in Deutschland. Darin forderte sie, dass der Trisomie-21-Test Kassenleistung werden müsse. Darüber kann man diskutieren. Indiskutabel und menschenverachtend ist aber, dass diese Forderung mitten auf einem Bild prangte, das ein Kind mit Trisomie 21 zeigte, das sich an seine Mutter kuschelte. Die Botschaft war eindeutig: Hätte die Frau einen pränatalen Trisomie-Test auf Krankenschein machen können, wäre das Leben ihres beeinträchtigten Sohnes vermeidbar gewesen. Vermeidbar, weil das Leben dieses Kindes unwert ist?

Unser Umgang mit beeinträchtigten Menschen sagt viel darüber aus, was wir als Menschen sind.

Dieser Text ist ein Auszug aus der Rede von Meinhard Lukas beim Gedenken der Opfer der NS-Euthanasie im Schloss Hartheim am 1. Oktober.

Der Autor

Meinhard Lukas (* 1970 in Wels) studierte Rechtswissenschaften. Seit 2004 hat er einen Lehrstuhl für Zivilrecht an der Johannes-Kepler-Universität inne, deren Rektor er seit Oktober 2015 ist. Lukas ist wegen eines terminalen Nierenversagens auf eine tägliche Dialyse angewiesen. Eine seiner beiden Töchter ist mit Trisomie 21 auf die Welt gekommen.

Die komplette Rede von Meinhard Lukas im Wortlaut:

Der Mercedes Omnibus trägt das Kennzeichen der Reichspost. Er hält an der Westseite des Schlosses. Der Holzschuppen schützt vor neugierigen Blicken. Angestellte, die sich Pfleger nennen, empfangen die Menschen im Bus, begleiten, nein eskortieren sie auf ihrem letzten Weg. Auch der kleine Seppi muss sich anstellen. Er hat nur seine Puppe, an der er sich festklammert. Seine Eltern wissen von all dem nichts, glauben ihn in den besten Händen im Kloster Mariathal. Bei Seppi gab es Probleme bei der Geburt. Er ist halt bei allem ein bisschen langsamer. Zu langsam offenbar.

Es geht durch einen schmalen Seiteneingang, den mit Brettern verschlagenen Arkadengang entlang bis in den Auskleideraum. Damit alles seine Ordnung hat, sammeln und registrieren die sogenannten Pfleger die Kleidungsstücke und die wenigen Habseligkeiten der inzwischen nackten Ankömmlinge. Auch Seppi muss sich von seiner Puppe trennen.

Im Untersuchungsraum treffen die verängstigten Menschen auf ihren Arzt. Da steht die Diagnose „unwertes Leben“ längst fest. Der Arzt, der einst einmal einen Eid geschworen hat, untersucht seine Patienten, nein seine Opfer, nur um sein späteres Tun zu rechtfertigen und zu verschleiern. Und um das Verwertbare des „Unwerten“ zu sichern. Goldzähne sollen nicht verloren gehen.

Nun wird es ernst. Es geht durch eine niedrige, schmale Stahltüre in eine gekachelte Kammer, kaum größer als 20 m². Drei Duschköpfe wollen den Eindruck eines Duschraums erwecken. Und schon schließt sich die Türe hinter den dicht gedrängten nackten Menschen. Seppi tut, was er immer tut, wenn er verängstigt ist. Er hält sich die kleinen Hände vor seine Augen. Im angrenzenden Technikraum öffnet der Arzt das Ventil an der Gasflasche. Es dauert 15 Minuten, bis alle 60 Menschen tot sind. „Gnadentod“ heißt das. Von nun an kümmert sich der Brenner, ja er wird wirklich Brenner genannt, um die nackten Leichname. Nachdem alle Goldzähne entfernt sind, vollbringen Krematorium und Knochenmühle ihr routiniertes Werk. Was bleibt, ist die Asche von 60 Menschen, die der Gesellschaft nicht mehr zur Last fallen. Auch der kleine Seppi nicht.
Sein noch so junges Leben wich zu weit ab von der Norm, vom deutschen Ideal. So wie das der anderen 30.000 Menschen, die hier im Schloss, hier in unserer Heimat den Weg in die Gaskammer antreten mussten. Die Schergen von Hartheim haben darüber penibel Buch geführt. Bis auf die letzte Reichsmark genau haben sie berechnet, was sie durch ihre Taten der „Volksgemeinschaft“ an künftigem Aufwand erspart haben. Das „unwerte“ Leben als Kostenfaktor.

Kostenfaktor? Behinderte als Kostenfaktor, als Budgetposten? Als Posten eines Sparbudgets? Das klingt erschreckend aktuell, erschreckend zeitgemäß. Je anonymer Sozialleistungen daherkommen, desto profaner ist unsere volkswirtschaftliche Logik, desto entmenschlichter ist die Gesamtrechnung. Tobias Moretti hat dieses Phänomen hier in Hartheim in aller Schärfe formuliert: „Das Begriffspendant für das, was früher Sozialhygiene hieß, heißt heute, überspitzt formuliert, Gesundheitsökonomie.“ Und doch gibt es heute einen gesellschaftlichen Konsens zum Schutz des Lebens in all seiner Vielfalt. Die Würde des Menschen, jedes Menschen, ist unantastbar. Das ist Prinzip unserer Verfassung. Ein Prinzip, das zuletzt im Nationalsozialismus gänzlich außer Kraft gesetzt war.

Spätestens jetzt ist die Versuchung groß, in die gewiss richtige und wichtige, aber doch etwas bequeme Nie-Wieder-Rhetorik einzustimmen. Wer sich nur im historischen Frame des Nationalsozialismus bewegt und sich redegewandt davon distanziert, mag sich die undankbare Auseinandersetzung mit den sozialen Wunden der Gegenwart ersparen. Noch vor einigen Jahren wäre ich dieser Versuchung gewiss erlegen, zumal als Spross einer Leistung-muss-sich-wieder-lohnenGesellschaft. Zwei Schicksalsschläge später haben sich bei mir Standort und Standpunkt gravierend verändert. Als Vater einer wunderbaren Tochter mit Trisomie und als Patient mit terminalem Nierenversagen, kurzum mit einer schweren Behinderung, drängt mein Gedenken in die Gegenwart, in die Zukunft.

Schon zum Schutz vor uns selbst müssen wir uns dafür interessieren, wie Landsleute, wie Vorfahren an diesem Ort zu Massenmördern, Beitragstätern, Ermöglichern oder Wegsehern, also schlicht zu Unmenschen wurden. Wie konnte sich auf ihrem Gewissen, ja ihrer Seele eine Hornhaut aufbauen, an der das schlimmste Leid abprallte, obwohl sie zugleich liebevolle Familienväter, gefühlvolle Freunde und gläubige Kirchgänger waren? Schlummert dieser Dämon auch in uns, in unserer Gesellschaft?

„Der Weg zur Barbarei der NS-Zeit besteht aus unzählig vielen und winzig kleinen Schritten. Und wir können die winzig kleinen Schritte nachvollziehen, die durch das 18. Und 19. Jahrhundert trippelten, immer größer wurden und schneller, bis sie schließlich die Tore von Auschwitz, Treblinka, Majdanek und Mauthausen erreichen“, sagt Michael Köhlmeier in seiner Rede im Linzer Rathaus. Um uns dann mit all seinem Sprachgefühl zu verdeutlichen, warum wir uns mit den Tätern von Mauthausen und Hartheim vergleichen sollen, ohne uns gleichzusetzen.

Ich zitiere noch einmal Köhlmeier: „Wie geht aus der Geschichte lernen? Wie soll man aus der Geschichte lernen, wenn man ‚heute‘ nicht mit ‚damals‘ vergleichen soll? Wie geht das dann noch? Wieder haben wir es mit einem kleinen, winzig kleinen Schritt zu tun: Indem ich ‚vergleichen‘ und ‚gleichsetzen‘ nicht voneinander unterscheide, sondern als Synonyme verwende, unterbinde ich letztlich jedes Lernen aus der Geschichte!“

Achten wir also auf die winzig kleinen und weniger kleinen Schritte, die heute getan werden. Fragen wir mit Köhlmeier, ob diese Schritte in eine ähnliche Richtung weisen, auch wenn wir von der Barbarei von Hartheim weit entfernt sind. Machen wir uns bewusst, was die Voraussetzungen der Massenmorde hier waren: einerseits ein bedingungsloser Autoritätsglaube und andererseits die Entmenschlichung der Opfer, das Ausscheiden der Beeinträchtigten aus der Species.
Dann spricht aber alles dafür, gerade heute besonders wachsam zu sein. Der Ruf nach Autorität, der Zuspruch zu Populisten anstelle des mühseligen Aushandelns konträrer Positionen wird auch in Europa
immer lauter. Selbst in Österreich halten nur noch 80 Prozent die Demokratie für die beste Regierungsform und gar 43 Prozent der Österreicher wünschen sich einen starken Mann. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des SORA-Instituts im Jahr 2017. Damals war in Österreich noch die Migration das bestimmende Thema. Die Zahlen mögen ganz aktuell – bedingt durch den Klimafokus und ungeheuerliche Skandale – weniger ausgeprägt sein, Grund zur Besorgnis sind sie weiterhin.

Viel schwerer wiegt aber heute, wie unser humanes Menschenbild, eine Errungenschaft der Aufklärung, einmal mehr ins Rutschen gerät. Dramatisches Anschauungsmaterial dafür sind mehr oder weniger anonyme Hasspostings im Internet. Sie richten sich gegen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Rasse und Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Orientierung, ihrer sozialen Bedürftigkeit und, und, und. Hassposter gibt es in allen Lebenslagen.

Ich will hier nur zwei Beispiele nennen: Zum einen das eines Lehrlings, der das Bild eines Flüchtlingskinds kommentierte, das in der Hitze durch einen Wasserschlauch erfrischt wird. Ich zitiere: „Flammenwerfer währe (sic) da die bessere Lösung.“ Ein weiteres Beispiel betrifft die Führungskraft eines großen Konzerns. Sie kommentierte einen Bericht, wonach es vor dem Erstaufnahmelager Traiskirchen gebrannt hat. „Was? vor den Mauern. In den Gebäude (sic!) wäre besser schlecht gezielt.“, schrieb sie wörtlich. Solche Postings sind leider keine Ausnahmeerscheinung.

Aber auch die österreichische Innenpolitik lässt immer wieder tief blicken. Ein Landesparteiobmann aus Niederösterreich bezeichnete Asylwerber als „Erd- und Höhlenmenschen“, ein Landesrat nannte Homosexuelle „Schwuchteln“, sprach andernorts über nicht förderungswürdige „Dreckskünstler“ und sagte über die damalige Innenministerin, sie habe „… den Flüchtlingen noch die Jause zugeworfen, damit sie gestärkt sind fürs Vergewaltigen“. Ein Innenminister wollte Flüchtlinge „konzentriert an einem Ort halten“ und ein Vizebürgermeister verglich in einem Gedicht Menschen mit Ratten, sprach gar von Ratten mit Kanalisationshintergrund. Selbst ein Ex-Vizekanzler wurde in einer Dokumentation aus der Zeit vor seinem Regierungsamt mit einem bemerkenswerten Satz zitiert. Es ging dabei um die Abschiebung von Migranten, die dieser Politiker mit einem Transportflugzeug erledigt wissen wollte. Und dann wörtlich: „Da können sie dann schreien und sich an-urinieren. Da störts dann niemanden."

Ich könnte noch mehr „Einzelfälle“ nennen. „Einzelfälle“, die eines gemein haben: Die Sprache schafft eine gefährliche Distanz, würdigt eine Gruppe von Menschen herab, lässt kaum eine Empathie aufkommen. Es sind hassgetriebene Aussagen, sei es der eigene Hass oder der mutmaßliche Hass der Anhänger. Hass ist ein gefährlicher Ratgeber. Das ist schon in Hannah Arendts Buch über die Ursprünge totaler Herrschaft nachzulesen. Ihre Beobachtung bezog sich auf die Anfänge des Nationalsozialismus, klingt aber sehr nah:
„Der Haß konnte sich auf niemand und nichts wirklich konzentrieren; er fand niemanden vor, den er verantwortlich machen konnte (…). So drang er in alle Poren des täglichen Lebens und konnte sich nach allen Richtungen verbreiten, konnte die phantastischsten, unvorhersehbarsten Formen annehmen; nichts blieb von ihm geschützt, und es gab keine Sache in der Welt, bei der man sicher sein konnte, daß der Haß sich nicht plötzlich auf sie konzentrieren würde.“
Wir müssen uns der Fratze des Hasses mit aller Macht entgegenstellen, dem Hassgefühl in uns selbst, dem Hass in der Gesellschaft. Dem Hass auf Flüchtlinge, Sozialbedürftige, Andersdenkende, Politiker, Journalisten usw. Immer dann, wenn in der Vergangenheit der Hass zum Flächenbrand wurde, war es bereits zu spät. Stimulieren wir daher das Gewissen und nicht den Hass. Es ist das Gewissen, das unsere Identität prägt, schrieb der Soziologe Niklas Luhmann. Das Verhalten der Täter von Hartheim sagt daher etwas darüber aus, was sie als Menschen waren. Dann sagt aber auch unser heutiger Umgang mit Schutzbedürftigen etwas darüber aus, was wir als Menschen sind.
Dieser Umgang ist meist geprägt von einer intuitiven Zurückhaltung und einer großen Distanz. Die meisten von uns haben kaum spürbaren Kontakt mit beeinträchtigten Menschen. Das ist natürlich ganz
anders, was die Pflege alter Menschen betrifft. Diesem Thema wird daher zu Recht große Aufmerksamkeit geschenkt. Ansonsten fließt unsere in Sozialleistungen gegossene Zuwendung aber in Bereiche, die wir gerne verdrängen. Wer besucht schon Einrichtungen für Menschen mit Behinderung? Das bleibt nicht ohne Wirkung. Kommt es hier zu Kürzungen, sind es naturgemäß selten die Betroffenen, die sich zur Wehr setzen, weil sie es oftmals gar nicht können. Zu Wort melden sich dann nur die karitativen Organisationen. Und auch ihnen weht zunehmend ein rauerer Wind entgegen. Ich erinnere hier nur an das Dictum eines Generalsekretärs, der der Caritas unter anderem „Profitgier“ vorwarf.
Natürlich ist es legitim, auch bei der Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung Effizienz einzufordern. Gerade hier braucht es aber ein besonderes Augenmaß. Aktuelle Budgetkürzungen haben – wie ich höre – eine beachtliche Wirkung. Wenn sich in einer Behinderteneinrichtung der wöchentliche Ausflug am Sonntag nicht mehr finanzieren lässt, bekommen das die Betroffenen empfindlich zu spüren. Schließlich war es gerade dieser Ausflug, auf den sie sich Woche für Woche gefreut haben. Nicht zu reden davon, wenn Sparmaßnahmen die schulische Integration treffen.

Bei all dem kann ich nur andeuten, wie weit Österreich bei der Förderung von Kindern mit Entwicklungsstörungen zurückhängt. Während allein Bayern an die 20 Sozialpädiatrische Zentren aufzuweisen hat, also Zentren mit spezialisierten Kinderärzten, Physiotherapeuten, Logopäden und Pädagogen an einem Ort, gibt es in Österreich kaum ein vergleichbares Zentrum. Das bedeutet für betroffene Eltern nicht weniger als einen Spießrutenlauf auf der Suche nach geeigneten Medizinern und Therapeuten. Ich weiß, wovon ich spreche. Nicht auszudenken, wie es betroffenen Eltern geht, die nicht über die Möglichkeiten eines Rektors verfügen. Die Folgen sind verheerend, weil gerade bei Kindern mit Beeinträchtigung die Förderung in den ersten Jahren über ihre Entwicklung entscheidet.

Was dadurch ausgelöst wird, ist ein Kreislauf, ich vermeide bewusst das Wort Teufelskreislauf, dem man sich gerade an diesem Ort kaum anzusprechen traut und doch als Vater einer Tochter mit Trisomie nicht aussparen sollte. Die Art, wie wir mit beeinträchtigten Menschen umgehen, ist nicht selten ein Grund, warum sich werdende Eltern schlicht nicht vorstellen können, ein Kind mit Behinderung zur Welt zu bringen. Damit betrete ich ein moralisches und ideologisches Minenfeld, will ich doch über nicht weniger sprechen als über die Routine der Pränataldiagnostik.

In den allermeisten Fällen dient diese Diagnostik allein dazu, die Eltern mit der recht verlässlichen Prognose zu beruhigen, dass sie ein gesundes Kind zur Welt bringen werden. Was aber, wenn pränatal eine Behinderung oder auch nur eine mögliche Behinderung diagnostiziert wird? Die Eltern müssen dann innerhalb weniger Tage eine der schwierigsten Entscheidungen überhaupt treffen. Man will sich die Nöte dabei nicht vorstellen. Neun von zehn Müttern, die während der Schwangerschaft von einer Chromosomenanomalie ihres Babys erfahren, tragen das Kind nicht aus, Tendenz steigend.
Der Gesetzgeber hat die Entscheidung aus gutem Grund der Mutter überantwortet und sie doch zugleich unvermeidlich überfordert. Wer denkt schon daran. das Embryonen in der 13. Woche bereits zu groß sind, für eine Ausschabung. Dann muss bei einem Abbruch das Kind oftmals mit einer Giftspritze getötet und tot zur Welt gebracht werden. Wer denkt schon daran, was das für eine Mutter heißt. Lassen wir daher eine dieser Mütter zu Wort kommen:
„Es war nur ein kurzer schmerzhafter Moment. An den Schenkeln war es warm und feucht. Fruchtwasser. Sie [Die Hebamme] stellte meine Beine auf. Nahm es ganz sanft in Empfang, das Kind. Fragte, ob ich es sehen wolle. Nein. Ja. Nein. Sagte ich. Und dann legte sie es in meine Hand, wo es gerade so hineinpasste. Das Mädchen. Und sie lag da, als würde sie schlafen, meine Tochter, warm und weich und schön irgendwie. Und ich hab mich bei ihr entschuldigt.“
Warum ich uns das heute auch noch zumute? Weil es Teil unserer Gesellschaft, weil es ein verdrängter Teil unserer Gesellschaft ist. Weil ein reflektiertes Gedenken in Hartheim gerade dieses Thema nicht aussparen darf.

Und ich bleibe dabei. Natürlich soll eine betroffene Mutter selbstbestimmt höchstpersönlich entscheiden. Eine humane Gesellschaft muss aber zugleich alles dafür tun, dass diese Entscheidung auf Grundlage einer bestmöglichen Information und ohne sozialen Druck fällt. Womit wir wieder bei der Frage sind, wie wir mit beeinträchtigten Menschen umgehen? Was also können Eltern erwarten, wenn sie sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch und für das Leben mit einem behinderten Kind entscheiden?

Unsere höchstpersönliche Erfahrung ist nicht ermutigend. Auch wir haben uns natürlich für die Pränataldiagnostik entschieden, als meine Frau zum ersten Kind schwanger war. Der Befund war unauffällig. Erst nach der Geburt wurde Trisomie diagnostiziert. Die Art, wie uns das mitgeteilt wurde, werden wir nie vergessen. Ich stand mit meiner Tochter am Arm neben meiner noch sehr geschwächten Frau. In dieser Situation konfrontierte uns eine völlig überforderte junge Ärztin in ganz eigenartiger Weise mit der Diagnose: Sie fragte uns aus heiterem Himmel in vorwurfsvollem Ton, ob wir es denn verabsäumt hätten, den Embryo auf Gendefekte zu untersuchen. Erst langsam wurde uns klar, was sie uns eigentlich sagen wollte. In dieser Schocksituation begannen wir, uns zu verteidigen, erläuterten, dass wir alles wie vorgesehen abgespult haben.

Erst heute verstehe ich, was diese schreckliche Erfahrung über unseren Umgang mit beeinträchtigten Menschen aussagt. In Zeiten der Pränataldiagnostik sind diese Menschen oftmals nur eine vermeidbare oder eben unvermeidbare Panne im medizinischen Hochleistungssystem. So fühlten wir uns übrigens auch, als meine Frau die zuständige Primaria einige Tage später nach Therapiemöglichkeiten fragte. „Sie müssen sich mit Ihrer Lage abfinden, schließen Sie sich einer Selbsthilfegruppe an“, war die patzige Antwort. Das war nicht nur gefühllos, das war auch schlicht falsch. Gerade bei Kindern mit Trisomie kann man ganz erstaunliche Ergebnisse erzielen, wenn man vom ersten Tag an mit einer Physiotherapie gegen die typische Muskelschwäche ankämpft. Und die Eltern haben dann plötzlich eine Perspektive in ihrer scheinbar perspektivenlosen Situation.

Viel schlimmer als unsere persönliche Erfahrung ist ein Tweet, den in Deutschland eine liberale Bundestagspartei vor einigen Monaten absetzte. In diesem Tweet forderte die Partei, dass der Trisomie-21Test Kassenleistung werden müsse. Darüber kann man durchaus diskutieren. Indiskutabel und menschenverachtend ist es aber, dass diese Forderung mitten auf einem Bild prangt, das ein Kind mit Trisomie 21 zeigt, das sich liebevoll an seine Mutter kuschelt. Die Botschaft ist eindeutig: Hätte die Frau einen pränatalen TrisomieTest auf Krankenschein machen können, wäre das Leben ihres beeinträchtigten Sohnes vermeidbar gewesen. Vermeidbar, weil das Leben dieses Kindes unwert ist?
Ich betone einmal mehr: Die Würde des Menschen, jedes Menschen, ist unantastbar. So will es unsere Verfassung. Aber auch dieser Anker ist kein Ruhekissen. Das hat uns ein ehemaliger Innenminister Anfang des Jahres gelehrt. Er sprach im Zusammenhang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention von „seltsamen rechtlichen Konstruktionen“, die im heutigen Kontext zu hinterfragen seien. Um dann sehr grundsätzlich zu werden: „Recht muss Politik folgen, nicht Politik dem Recht.“ Womit auch die Grundfesten unseres Rechtsstaats ins Wanken geraten. Schließlich galten die Menschenrechte bei uns lange als unantastbar.
Lernen wir also aus der Geschichte hier in Hartheim, indem wir unser Tun daran messen. Vergleichen wir unsere Haltung und die Haltung unserer Mitmenschen mit jener der damaligen Täter, ohne sie gleichzusetzen. Machen wir uns immer wieder bewusst, dass unser Umgang mit den schutzbedürftigen Menschen etwas darüber aussagt, was wir selbst als Menschen sind. Kämpfen wir gegen den Dämon der Gleichgültigkeit an. Stellen wir uns immer wieder den letzten Weg des kleinen Seppi bis in die Gaskammer des Schlosses hier vor. Denken wir daran, wie er in der Gaskammer noch seine kleinen Hände vor seine Augen hielt, bevor nebenan der Arzt das Ventil der Gasflasche öffnete. Und machen wir uns immer wieder den letzten Weg der anderen 30.000 Opfer bewusst.

Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. Und noch eine Bitte zum Schluss. Schenken Sie mir keinen Applaus, schenken Sie uns allen einen Moment der Stille.

Meinhard Lukas
Meinhard Lukas

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2019)

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