Filmkritik

„Gemini Man“: So pazifistisch kann ein Action-Reißer sein

Sein Genre heißt Humanismus: Regisseur Ang Lee mit seinem Hauptdarsteller Will Smith.
Sein Genre heißt Humanismus: Regisseur Ang Lee mit seinem Hauptdarsteller Will Smith.Constantin
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In Ang Lees Sci-Fi-Thriller „Gemini Man“ kämpft Will Smith als Geheimagent gegen sein jüngeres Ich. Dieses Digitalduplikat ist ein Tricktechnik-Meilenstein – doch im Kern handelt der Film von Menschlichkeit.

Der Überfall kommt unerwartet. Mitten in der Nacht wird die Geheimagentin von bewaffneten Männern attackiert. Es sind ihre eigenen Leute, die ihr plötzlich zusetzen – weil sie einen Kollegen kennt, der ihren gemeinsamen Befehlshabern lästig geworden ist. Nur dank dessen Warnung entkommt sie dem Anschlag. Als er daraufhin fragt, ob sie ihm nun vertraue, meint sie: Zu 99 Prozent. Das zeitigt ein bitteres Lächeln: „Verdammt nervig, dieser fehlende Prozentpunkt, oder?“

Zuversicht ist schwierig – zumal im Kontext ständiger Alarmbereitschaft. Dennoch bildet sie die Grundlage jedweder Vorstellung von Menschlichkeit: So lautet eine Kernbotschaft von Ang Lees außergewöhnlichem Agententhriller „Gemini Man“. Beileibe kein Gemeinplatz in einem Genre, dessen Reiz in der kunstvollen Kultivierung von Argwohn besteht, im Spinnen von Kabalen und Intrigen auf unsicherem Boden.

Doch Lee, der aus Taiwan stammende Regisseur moderner Klassiker wie „Brokeback Mountain“ und „Crouching Tiger, Hidden Dragon“, scherte sich nie um vermeintliche Gesetzmäßigkeiten etablierter Erzählformen. Sein Genre hieß schon immer: Humanismus. Da mutiert ein Superheldenfilm („Hulk“, 2003) zum philosophischen Psychogramm, ein Bürgerkriegswestern („Ride With the Devil“, 1999) zum Bildungsroman – und nun eben ein Actionknaller mit Sci-Fi-Elementen zum Ethikseminar.

Die Sehnsucht des Profikillers

„Gemini Man“ dreht sich um Henry Brogan, verkörpert von Will Smith: ein hochbegabter Profikiller, der im Namen des „Guten“ die „Bösen“ erlegt. Doch sein Job geht ihm an die Nieren; er sehnt sich nach Ruhe und gutem Gewissen. Nix da: Als Brogan herausfindet, das sein letztes Opfer gar kein Terrorist war, gerät er selbst ins Fadenkreuz seines auftraggebenden Nachrichtendienstes. Zusammen mit der Frau, die ihn eben noch überwacht hat (Mary Elizabeth Winstead), gelingt es ihm, unterzutauchen. Doch Brogans Ex-Chef Clay (Clive Owen) setzt eine Geheimwaffe auf ihn an: einen 25 Jahre jüngeren Klon namens Junior.

Dieses pikante Handlungsdetail macht „Gemini Man“ zu einem Meilenstein der Tricktechnik. Dass Lee seine aufwendigen Projekte umsetzen kann, obwohl sie sich gängigen Trends widersetzen, liegt nicht zuletzt an seiner Spektakelaffinität – und an sichtlicher Begeisterung für die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten innovativer Filmtechnologien. Sein letzter Hit „Life of Pi“ (2012) überwältigte mit bunten 3-D-Effekten, das Drama „Billy Lynn's Long Halftime Walk“ (2016) experimentierte mit erhöhter Bildfrequenz.

Auch „Gemini Man“ bringt in angemessen ausgestatteten Kinos 60 Bilder pro Sekunde auf die Leinwand – im Unterschied zu den gewohnten 24. Ein zweischneidiges Schwert: Einerseits führt die Bewegungsschärfe zu einem „billigen“ HD-Fernsehshow-Look, andererseits verleiht sie den Action-Sequenzen (darunter eine famose Motorrad-Verfolgungsjagd) druckvolle Unmittelbarkeit. Das Hauptwagnis des Films liegt allerdings anderswo: Sein Ziel ist nichts weniger als die Überbrückung des „Uncanny Valley“.

Bald nur noch Deepfake?

Dieser vom japanischen Robotiker Masahiro Mori eingeführte Begriff meint das „unheimliche Tal“ in jener ansteigenden Kurve, die das Verhältnis zwischen der Menschenähnlichkeit von Kunstwesen und der Aura von Vertrautheit, die sie ausstrahlen, beschreibt: Kurz vor dem Gipfel des Anthropomorphismus bricht die Kurve drastisch ein. Hollywood kämpft schon lang damit, uns computergenerierte Schauspieler für echt zu verkaufen – gelungen ist es noch nicht. Bis jetzt. Denn für „Gemini Man“ hat die Effektschmiede Weta Digital aus dem Vollen (Bewegungserfassung, Digitalverjüngung, Animation) geschöpft, um dem 51-jährigen Superstar Smith einen glaubhaften Zwilling zur Seite zu stellen. Das Resultat ist beeindruckend: Die Künstlichkeit des jungen Doubles stößt nur auf, wenn man es darauf anlegt.

Begegnung mit dem Ebenbild

Manchen wird da wohl mulmig zumute. Ist dies der Beginn eines Deepfake-Zeitalters? Die Apotheose des Baudrillard'schen Simulacrums? Kommt Filmschauspiel bald nur noch aus der Konserve? Schon möglich. Wirklich entscheidend ist aber, wie und wofür die neue Technik verwendet wird. Und Lee spannt sie ironischerweise für ein Lehrstück ein, das im Kern Authentizität predigt. Denn Junior, das Duplikat der Hauptfigur, wurde von seinem „Vater“ Clay auf Skrupellosigkeit getrimmt, seines Empfindungsvermögens beraubt. Die Begegnung mit seinem Ebenbild löst einen Erkenntnisprozess aus: Vielleicht ist der Andere doch mehr als ein bloßes Objekt?

So unterwandert Lee gekonnt Showdown-Erwartungen, ohne auf Spannung zu verzichten. Bei der US-Kritik ist das bislang nicht sehr gut angekommen. Womöglich auch, weil „Gemini Man“ trotz technischer Raffinesse ziemlich altmodisch wirkt. Dass das Skript über 20 Jahre lang in der Entwicklungshölle schmorte, merkt man: an Parallelen zu Modellwerken wie „Terminator 2“, am eher verkrampften Humor, am didaktischen Gestus, mit dem hier löbliche Werte wie Gnade und Selbstachtung vermittelt werden. Letztlich ist es jedoch genau dieser anachronistische Charakter, der den Film sympathisch macht. Seine Umsetzung mag zuweilen ins Peinliche abdriften, heuchlerisch mutet sie nie an. Mit „Gemini Man“ zeigt Lee einen genuin pazifistischen Action-Reißer – dieses Kunststück soll ihm erst einmal jemand nachmachen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2019)

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