Ein uraltes Konzept wird je nach Zeitgeist neu interpretiert. Jetzt ist gerade die ausgewogene Mischung dran. Das kann sich auch wieder ändern. Eine Zwischenbilanz.
Es mag an die 20 Jahre her sein. Ein Führungskräfteseminar, bei dem wir Jungtalente nach Ausfüllen eines Fragebogens in vier Farben eingeteilt wurden. Da gab es die Roten (alle Farben sind hier unpolitisch zu sehen), die dominanten furchtlosen Alphatiere, immer vorneweg, entschlossen, entscheidungsfroh, zielstrebig, tatkräftig. Das wollten wir sein!
Die zweite Gruppe waren die Gelben, die begeisterungsfähigen, redegewandten Visionäre. Wer Visionen hat, der muss zum Arzt, hieß es damals, und auch der kleinste Gelbanteil in der Fragebogen-Auswertung diskreditierte den Kollegen, der damit ertappt wurde.
Die Dritten waren die Grünen, umgänglich, nett und ausgeglichen, langmütig und verlässlich. „Sekretärinnen“, entfuhr es einem Überroten mit verächtlich zuckendem Mundwinkel. Ganz klar: Grün, das waren die Befehlsempfänger, die Gammas, die Indianer. Wir wollten Häuptlinge sein.
Vierte und letzte Gruppe waren die Blauen, die faktenorientierten Perfektionisten, strukturiert, pragmatisch, detailverliebt, korrekt. „Die kontrollieren ja noch Excel mit dem Taschenrechner nach“, ätzte der Überrote. Beschämt zog unser Controller den Kopf ein. Für den Rest des Seminars gab er sich so rot wie möglich.
Tagelang wurde unsere Gruppe auf Rotsein gedrillt. Das hieß ständig auf dem Gas stehen, konkurrieren, kämpfen, alles geben, niemals stillstehen, keine Schwäche zeigen. Es war eine anstrengende Zeit, aus der wir vor allem eines mitnahmen: Bist du nicht rot, bist du ein Niemand.
Wonder-Woman-Psychotest
Das Konzept dahinter ist uralt. Schon 400 v. Chr. teilte Hippokrates die Menschen in Choleriker, Sanguiniker, Phlegmatiker und Melancholiker ein, je nachdem, welcher „Körpersaft“ (Galle, Blut, Gehirn, Milz) vorherrscht. Was auffallend mit den Schwächen der vier Farbtypen übereinstimmt: Der Rote braust leicht auf, der Gelbe ist leichtlebig, der Grüne behäbig und der Blaue schwermütig.
In den 1930er-Jahren entwickelte der US-Psychologe William Moulton Marston, Ehemann der Wonder-Woman-Erfinderin und selbst eine schillernde Gestalt, einen Persönlichkeitstest auf dieser Basis. Unter der Bezeichnung DISG (dominant, initiativ, stetig, gewissenhaft) ist er bis heute einer der am meisten verwendeten.
Thema hier ist weder Konzept noch Test. Beide sind anerkannt und unumstritten. Damit sie auch neue Generationen kennenlernen, kommen in schöner Regelmäßigkeit auf Zeitgeist getrimmte Bücher auf den Markt (siehe Buchtipp; der Titel bezieht sich auf die Meinung der Roten zu allen anderen Typen).
Jede Zeit hat ihre Farbe
Auffallend ist die wechselnde Auslegung immer derselben Fakten. Jede Zeit hat ihre Farbe. Bis zum Beginn der 2008er-Wirtschaftskrise waren die Roten heiß begehrt. Wer nichts riskiert, gewinnt nichts, hieß es. Als dann vieles den Bach hinunterging, tönte der Ruf nach den Blauen, den typischen Finance-Experten, um Sparpotenziale zu identifizieren und für den „Cost Cut“.
Als es nichts mehr einzusparen gab, schlug die Stunde der Gelben. Neue Ideen braucht das Land! Leichten Herzens gründeten sie Start-ups, eloquent pitchten sie um Investoren. Um all das auf den Boden zu bringen, dafür braucht es die nützlichen Grünen.
Ein Team, so heißt es heute, muss ausgewogen sein. Es braucht alle vier Qualitäten. Nur Rote reiben sich in Machtkämpfen auf, nur Gelbe verlieren sich in den Wolken, nur Grüne treten auf dem Stand, nur Blaue verharren im Detail. Es braucht die gute Mischung. Es hat nur lang gedauert, bis sich das herumgesprochen hat.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2019)