Expertentreffen

Die EU als „noch unvollendetes Friedensprojekt“

(c) REUTERS (Gonzalo Fuentes)
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Europa koste etwas. Das müsse stärker vermittelt werden, sagt der Historiker Michael Gehler.

Salzburg. „Ich sehe drei große Herausforderungen für die Europäische Union, wo sie noch ein unvollendetes Friedensprojekt ist: sozialer Friede, Migrationsfriede und die Wahrung des Finanzfriedens“, erklärte der Historiker Michael Gehler am Sonntag im Gespräch mit der „Presse“. Er hielt den Eröffnungsvortrag des vom Institut der Regionen Europas veranstalteten Salzburg Europe Summit zum Thema „Europa und Frieden 1919 – 1989 – 2019“.

„Wenn wir die soziale Union nicht anstreben, dann riskieren wir den sozialen Zusammenhalt“, warnte der Historiker. Außerdem brauche es eine gemeinsame europäische Asylgesetzgebung. Die Voraussetzung für alles sei aber die Wahrung des Finanzfriedens. Ohne eigene Ressourcen könne die Europäische Union die vielen Erwartungen, die an sie herangetragen werden, nicht erfüllen. „Man kann die Stärke eines Staates oder internationalen Akteurs nur daran messen, wie weit er in der Lage ist, eigene Ressourcen zu mobilisieren“, erklärte Gehler: „Und da ist die EU behindert und beschränkt durch ihre Mitgliedsstaaten.“ Eigene Steuern seien ein richtiger Gedanke.

Sozialen Zusammenhalt sichern

Man müsse viel stärker ins Bewusstsein rücken, dass Europa etwas koste. Der Frieden sei die Dividende dieses Einsatzes. „Wenn wir den sozialen Zusammenhalt nicht sichern und die Asylfrage nicht lösen, dann entsteht ein Cocktail, der Europa nicht gut tut“, meinte Gehler. Gemeinsam mit den Finanzen müssten diese beiden Probleme gelöst werden. Für den Wissenschaftler ist das eine der Voraussetzungen dafür, dass eine gesamteuropäische Friedensordnung funktionieren könne.

Er habe seine Zweifel daran, ob die Nachkriegsordnungen in Europa immer Friedensordnungen waren. Nach dem Ersten Weltkrieg hätten die Verliererstaaten die Bedingungen nur akzeptieren können, es sei ein „Diktatfriede“ gewesen, der eigentlich zu einem „Waffenstillstand auf 20 Jahre“ geführt habe. Der Krieg in den Köpfen sei weitergegangen und habe schließlich zum Zweiten Weltkrieg geführt. Die Nachkriegsordnung nach 1945 wäre ein „geteilter Frieden“ gewesen. Er teilte Europa in den Einflussbereich der USA und in einen der Sowjetunion. Erst 1989/90 nach der Beendigung des Kalten Krieges – in einer Zeit der Schwäche der Sowjetunion – habe es einen Versuch einer wirklich gesamteuropäischen Friedensordnung gegeben, sagte Gehler.

Allerdings hätten sich spätestens mit der Annäherung der Ukraine an die EU die roten Linien dieser neuen europäischen Ordnung für die Sowjetunion gezeigt. „Eine gemeinsame gesamteuropäische Friedensordnung war ab 1990 ernsthaft angegangen, aber nur in Ansätzen und letztlich ohne Berücksichtigung der Interessen Russlands in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre verwirklicht worden“, sagte der Historiker, der an der Universität Hildesheim in Deutschland lehrt. Russland bleibe der wichtigste Faktor für die Sicherheitspolitik Europas. Wenn sich die Konfrontation mit Russland langfristig nicht abbauen lasse, bestünden wachsende Gefahren für den Frieden.

Bis Dienstag stehen bei der Konferenz noch Themen wie das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland, der Frieden auf dem Westbalkan, 20 Jahre Währungsunion oder die Folgen der Ostöffnung für den Tourismus auf dem Programm.

Web: www.institut-ire.eu

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2019)

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